sen sein. - „Das' man ne olle Kamelle: sagte Saitschik: Wer schwängert, der soll auch schwören! Der Gast (gemeint ist der Gastdozent Weserich) bedankte sich für die Unterweisung in mecklenburgischer Volksweisheit." Auch die flapsige Inhaltsangabe wird mit Dank entgegengenommen. „Ob der Schüler Haase noch bereit sei für eine zusätzliche Frage?" Ganz leicht scheinen die Fragen zu sein, mit denen Weserich nun die Klasse konfrontiert - aber sie schließen auf: Die Hauptperson? Die Tochter? Die Mutter? Die Wohnanschrift? Da stockt es schon: „Berlin" ist zu wenig. Also noch einmal von vorn anfangen! „In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon..." und so weiter. Behrenstraße - die gute Wohngegend für Standespersonen. Exkurs über den Berliner Bauarchitekten Johann Henrich Beer aus dem 17./18. Jahrhundert: das geschichtliche Interesse des Autors! - Und wann spielt die Erzählung? Anita hat berechnet: 1806. „Weil die Leute da die Dreikaiserschlacht von Austerlitz besprechen wie etwas ganz Neues." Weitere Fragen werden sein: Der Untertitel? Die Kapitelüberschriften? Wozu sind sie übrigens da? Höflichkeit gegenüber dem Leser, ihm zeigen, wohin die Reise geht? Ihm den Mund wäßrig machen? Aber doch nicht bei Fontane! Meilenstein oder Ortstafel? Eine Warnung? Ein Ornament? Dafür braucht man zwei Wochenstunden. Bei norddeutschen Wörtern stellt der Thüringer sich ahnungslos: Was heißt „geprünt?" Vör- machen! - Was sind Pinnen? „Klein Erna" muß helfen, und der Schüler Nagel hat seinen Spitznamen weg. Plattdeutsches läßt er sich übersetzen, schriftlich! Eine Liste aller vorkommenden Personen ist anzufertigen, ein Register der Schauplätze. Abstimmung über die Vorzüge der Orte: Gesine mag am liebsten die Schwäne im Park von Charlottenburg. Pius hat „Paretz" geschrieben. Der See von Wuthenow bekommt die meisten Stimmen - klar bei Mecklenburgern! Bald merken die Schüler: ohne Konversationslexikon kommt man nicht aus: Regiment Gensdarmes! England und die Unionsstaaten! Zar Alexander und seine „beautées"! Überhaupt die vielen Fremdwörter! Damals kamen sie aus dem Französischen. Nicht nur die Sprache der literarischen Gestalten ist damit gespickt, auch Fontane, 76 Jahre später schreibend, gebraucht im Erzähltext französische Vokabeln - begründet durch seine Herkunft? Was ist das: ein Embonpoint, eine Nonchalance? Worin excelliert ein Gourmand, worin ein Gourmet? Russisch hat man gelernt, aber Französisch steht nicht mehr im Lehrplan. Waren die Väter der neuen Schulreform gut beraten? Uwe Johnson kennt das DDR-Schulwesen: er besuchte die John-Brinkman-Schule in Güstrow, machte das Abitur dort 1951. Allmählich werden die „Kinder" selbstbewußt, kritisch, „aufständisch". Dieter Lockenvitz „aigriert" sich über Fontanes Stil. Wieso darf der „trotzdem" schreiben, wo laut Duden „obgleich" zu stehen hat? Und dann die indirekten und direkten Reden mit ihren falsch gesetzten Anführungszeichen und Konjunktiven! Herr Weserich muß Dieter recht geben. Doch: geht nicht auch er - nein: Uwe Johnson - mit Wortbildung, Orthographie (berliner Bär) und Interpunktion großzügig um? Soll hier der Schüler den Literaturkritiker spielen, dem Johnson sein „Na und" entgegenhalten will? Wer vertrauter wäre mit der Johnson-Rezeption im Westen Deutschlands - in der früheren DDR wurde er ja totgeschwiegen -, was könnte der wohl an Gags herausfinden und aufspießen! So manches, was Johnson sagen möchte, legt er Herrn Weserich oder seinen Schülern in den Mund. Von den dreißig Kindern 124
Heft
(1992) 54
Seite
124
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