MARGINALIEN
Hans Ester, Nijmegen
Die Verheißung eines Grabspruchs
Fontanes Roman Vor dem Sturm ist viel umfangreicher als seine anderen Werke. Aber nicht nur wegen seines größeren Umfangs enthält der Roman mehr Gedichteinlagen als etwa Effi Briest oder der Stechlin. Die Gedichte in Vor dem Sturm, die oft spruchartigen Charakter haben, tragen durch ihren die Zukunft vorwegnehmenden Charakter zum inneren Zusammenhang, zur epischen Integration der Vielfalt des Erzählten bei. In besonderem Maße gilt diese Funktion für den Grabspruch, den Lewin von Vitzewitz in der Bohlsdorfer Kirche liest. Lewin und der Kutscher Krist sind mit dem Schlitten unterwegs nach Hohen- Vietz, um dort Weihnachten zu feiern. Sie machen eine kurze Rast in Bohlsdorf. Der Spruch auf dem Grabstein lautet:
Sie sieht nun tausend Lichter;
Der Engel Angesichter Ihr treu zu Diensten stehn;
Sie schwingt die Siegesfahne Auf güldnem Himmelplane Und kann auf Sternen gehn.
Bereits im ersten Kapitel von Vor dem Sturm mit dem Titel „Heiligabend" werden Lewin und der Leser mit diesem Spruch konfrontiert: „Lewin las zwei-, dreimal, bis er die Strophe auswendig wußte; die letzte Zeile namentlich hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte." (Aufbau-Ausgabe der Romane und Erzählungen, Bd. 1, S. 14). Auf der weiteren Fahrt zum väterlichen Gut schläft Lewin ein und träumt. Der erotische Inhalt seines Traums wird leise angedeutet. Der Traum, in dem von einem Teppich mit dem Bilde der Frau Venus die Rede ist, erinnert deutlich an die romantische Liebeserfahrung Florios in Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. Florio muß sich zwischen der heidnischen Göttin der bedrohlichen Liebe und dem Sinnbild der christlichen Liebe entscheiden. Auch Lewin wird vor die Wahl zwischen zwei Formen von Liebe gestellt. Ähnlich wie in Das Marmorbild verwandelt sich die Wirklichkeit in Lewins Traum, die anfangs im Zeichen der Venus steht, in eine ärmere, schlichte, von der christlichen Verheißung geprägte Realität. Die sich in Spiegeln reflektierenden Lichter - als Sinnbild ist der Spiegel auch bei Eichendorff vorhanden - werden zu zwei Kerzenstümpfchen. Der Teppich mit der Venusgestalt verwandelt sich in den genannten Grabstein.
Der Bohsldorfer Grabspruch bildet den Auftakt zu einem Entwicklungsroman, der zugleich ein historisch-politischer Roman ist. Vom weiteren Verlauf von 128