Lewins Leben aus zurückblickend, versteht der Leser den Sinn der Sterne, die in diesem Grabspruch genannt werden. Durch die Sterne ist ein Bereich (oder vielleicht: eine höhere Macht) symbolisiert, der den guten, den wahren Lebensweg zeigt und der zur Lebenserfüllung führt. Marie Kniehase, das „seltene Kind", das Mädchen im Gazekleid mit den goldenen Sternchen, soll Lewins Frau werden und den Beginn einer friedlichen Zeit markieren.
Von Anfang an steht das Geschehen in Vor dem Sturm im Zeichen des Gegensatzes von Leben und Tod. Der Spruch besagt, daß im Tode eine Phase des erhöhten, des „wahren" Lebens angebrochen ist. In Lewins Leben wird aus diesem Gedanken der Verklärung nach dem irdischen Leben eine lebensimmanente Wahrheit. Lewin muß durch eine Periode des nur scheinhaften Lebens (die Verliebtheit in die Venusgestalt Kathinka von Ladalinskis) hindurch, um - ähnlich wie Eichendorffs Florio - die Wirklichkeit wahrnehmen zu können und die eigenen Gefühle zu Marie Kniehase zu erkennen.
Der Tod ist bei Lewin die Krankheit, die das Leben bedroht. Nach der Krankheit vermag Lewin wirklich zu sehen, sein Inneres zu verstehen und das Echte und Gute zu erkennen. Der Grabspruch nennt nun gerade dies als Vermögen der anonymen verstorbenen Frau. Sie, die, menschlich gesprochen, nicht mehr wahrnehmen konnte, sieht in Wirklichkeit mehr denn je zuvor. Das Wort „Angesicht" kommt in der Bibel recht häufig vor. Indem die „Angesichter" der Engel erwähnt werden, kommt der biblische Spruch aus Korinther 13, Vers 12 zur Geltung: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin." (Zitiert nach der Übersetzung Martin Luthers).
In Psalm 115, Vers 5 heißt es noch: „Sie haben Augen, und sehen nicht." Der Tod ist nach dieser Version der Übergang zum ungebrochenen Sehen, ohne die Spiegel, die das Bild verfälschen. Das Erblicken der Engel birgt keine Gefahr mehr in sich für den Sterblichen. Wenn in der Bibel vom Licht der Engel die Rede ist, dann läßt dieses Licht die Menschen die Augen „niederschlagen" (Lukas 24, Vers 5). Die Aussage des Grabspruchs lautet, daß hier nun von Angesicht zu Angesicht geschaut werden kann. Darüber hinaus sind die Engel nun die Diener des Menschen, und hiermit ist die ursprüngliche Situation des Paradieses wieder hergestellt. Im Alten Testament erscheinen die Cherubim ja als Wächter des Zugangs zum Paradies. Sie haben den Auftrag, den Menschen den Einlaß zum Paradies zu verhindern.
In ihrem Buch „Engel ihre Stimme, ihr Duft, ihr Gewand und ihr Tanz" stellt Jutta Ströter-Bender fest, daß das „Leuchten der Engelgesichter" zu den zentralsten Aussagen über Begegnungen mit Engeln durch die Jahrhunderte hindurch gehört. (Stuttgart 1988, S. 116). Wenn bei Mystikern von Engeln die Rede ist, so Ströter-Bender, dann hat das Angesicht der Engel eine besondere Bedeutung. Das Angesicht der Engel bringt das Innere zum Ausdruck, so wie das Auge des Menschen der Zugang zu seinem Innern ist. Das Erblicken der Gesichter der dienenden Engel impliziert in Fontanes Grabspruch eine enge eziehung zwischen ihnen und dem Menschen.
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