Heft 
(1992) 54
Seite
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Die Frau, von der im Spruch die Rede ist, wird durch die Harmonie mit den Engeln in ihrem Wesen gekennzeichnet. Diese Frau bekommt auch Ähnlichkeit mit den Engeln, indem es von ihr heißt:Und kann auf Sternen gehn". Selbstverständlich ist Vor dem Sturm keine theologisch-mystische Abhandlung. Marie Kniehase ist kein Engel, und der Roman handelt nicht vom Tod, sondern vom Leben.

Dennoch sind die Implikationen des Spruchs innerweltlich von Bedeutung. Marie Kniehases Erscheinen im Roman steht im Lichte des ursprünglichen Bil­des der Frau, dieauf Sternen gehen kann und die eine Klarheit und Harmonie ihres Wesens erreicht hat, die sie als einen Engel erscheinen lassen. Über den ganzen Roman ist ein Netz von Andeutungen gebreitet, die die skizzierten Zusammenhänge dem Leser bewußt werden lassen.

Was in Vor dem Sturm während der Jahre 1812/1813 im Bereich des Politischen auch geschehen mag, hinter dem dilettantisch geführten Privatkrieg von Berndt von Vitzewitz und Generalmajor von Bamme befindet sich eine Ord­nung jenseits menschlicher Berechnung. Diese andere Ordnung erweist sich als die wahre Ordnung. Das Reizvolle an Vor dem Sturm liegt darin, daß die Bezü­ge nur angedeutet werden.

Sie laden den Leser zu einem Spiel der Sinngebung ein.

Anmerkung:

Walter Wagner, der in seiner StudieDie Technik der Vorausdeutung in Fonta­nes Vor dem Sturm (Marburg 1966) auch den Grabspruch in seine wertvollen Überlegungen einbezieht, gibt in einer Anmerkung den Wortlaut jenes Grab­spruchs aus der Berliner Nikolaikirche wieder, der Fontanes Spruch zugrunde­liegt:

Wohl ihr, Sie hat gewonnen,

Sie sitzt nun bei der Sonnen,

Für der die Sonn erbleicht,

Sie steht itzt alle Zeiten Der Rahel an der Seiten,

Die ihr an Unfall gleicht.

Sie sieht viel tausend Lichter,

Die englischen Gesichter,

Die ihr zu Dienste stehn;

Sie schwengt die Siegesfahne

An güldnen Himmels-Plane

Und kann auf Sternen gehn. (Wagner, S. 33)

Es ist deutlich, daß die erste Strophe mit dem Hinweis auf das Leben der Ver­storbenen für Fontane weniger gut brauchbar war. Und es wird auch erkennt­lich, daß Fontane durch die Eingriffe in die zweite Strophe einen viel gelunge­neren, eigenen Gedichttext daraus gemacht hat.

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