Anlage, Reiz und Antwort, Psychologie und Milieu. Gewiß: der Erzähler versucht, seine Kategorien zu verhüllen oder zu archaisieren. Von Erbschaft, nicht von Vererbung ist die Rede."(149) Ist Fontanes Leistung aber ob ihrer Fehler als ungenügend anzusehen?
Daß in Grete Minde das Motiv der Vererbung mit dem der Erbschaft historisierend vermengt wird, liegt auf der Hand; aber stellt der Erzähler Grete und ihre Verirrung tatsächlich als Auswirkung einer erblichen Ursache dar? Vielmehr hinterläßt bei mir die angebliche Archaisierung und vor allem die Handlungsführung den Eindruck, als ob Fontane den Vererbungsbegriff kritisch unter die Lupe nähme und ihn als Vorwand für Vorurteile und Vorteilsberechnung, auch als selbsterfüllende Prophezeihung bloßstellte.
So sinnend frage ich mich weiter, ob es denn wirklich ein Makel sei, „daß das historische Gewand aus der Maskenleihanstalt stammt und durch seine Nähte und Ritzen den Blick auf den nur verkleideten Vorgänger des konsequenten Naturalismus freigibt."(150) Das klingt entschieden ambivalent: soll die Novelle also inkonsequent sein, oder ist sie nur ihrer Zeit voraus? Solch hintergründige Schätzung wirkt auf mich wie die Worte eines diplomatischen Kunsthändlers, der es mit keiner Kundschaft verderben möchte - genauso Demetz' Kommentare zum Dichter selbst, dessen „höchst private Abneigung gegen das Spektakuläre" ihn angeblich daran gehindert habe, „das Verbrechen als persönliche Aktion darzustellen, und (er) sich damit (begnügte), ins Unpersönliche und zur Rhetorik des Wie-Wenn zu greifen (,...) eine Korrektur, die das mögliche Kunstwerk fast zerstört."(151) Zuerst sei festgestellt, daß der Erzähler nicht erst am Schluß, sondern bereits auf der zweiten Seite eine perspektivierende Rhetorik einsetzt, über deren Zweck diskutiert werden kann. Der bildhafte, kinoähnliche Eindruck wirkt manchmal eigenartig, aber es scheint mir psychologisch durchaus vertretbar - auch nach den späteren Beispielen des „inneren Monologs" -, das Ergebnis geistiger Gestörtheit einerseits symbolistisch, andererseits aus beschränkter Perspektive darzustellen, anstatt Wahnbilder und - handlungen diskursiv, d.h. als logisch nachvollziehbar wiedergeben zu wollen. Darf man aber solchem Kritiker überhaupt widersprechen, dem offenbar die ganze Richtung nicht paßt? „Das ist der gleiche Masken- und Mummenschanz, dessen sich der bürgerliche Leser der Epoche bedient, um seine substantielle Stillosigkeit zu verbergen. (...) Das Nebeneinander von erzwungenem Historismus und Vererbungslehre reflektiert, in Grete Minde, die Misere eines stillosen Zeitalters, anstatt sie artistisch zu überwinden."(150) Vor siebzig Jahren waren solche Worte ein Programm: ist Professor Demetz der letzte Vorreiter des 20. Jahrhunderts, dazu berufen, die Vergehen des 19. anzuprangern? Nach den Maßstäben der Bauhausschule war „Maske" etwas an sich Verwerfliches, aber sollte ein Nachwortautor nicht eher bemüht sein, die nun einmal vorgegebene Maske zu lupfen, statt gegen sie zu polemisieren?
Selbst das Argument, womit Demetz Grete Minde wieder aus Ach und Bann retten will, „die reichentfaltete Kombinatorik der Motive", verstimmt, denn das ist die einzige Gemeinsamkeit, die Grete Minde mit den Werken aus der 'guten' Gesellschaft aufweist - eigentlich nicht die einzige, dann man müßte auch das Experimentelle daran erwähnen, jene „dramatische Darstellungsweise" (Fontanes
140