Heft 
(1992) 54
Seite
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präzise(n) Lesen der Texte begegnen, da nur dies zuEntdeckungen" führe, Mythen zerstören" undVorurteile aufheben" könne (S. VI). Bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis erstaunt es daher zunächst, daß eine so profilierte und vielschichtige Figur wie Minna von Barnhelm sich mit sechs Seiten begnü­gen muß, derAusnahmefall" der Melanie van der Straaten nach 6 1/2 Seiten abgeschlossen und selbst eine Polly Peachum bereits nach zwei Seitenerle­digt" ist. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Autorin sich einen umfangreichen Textkorpus vorgenommen hat (vier Dramen Lessings und die Jugendkomödi­en, 15 Romane und Novellen Fontanes, mehr als zwanzig Stücke Brechts), so daß eine Begrenzung notwendig wird. Dennoch sollte dies keine Lizenz für die erheblichen Abstriche von der Qualität und Differenziertheit eingehender Text­analysen sein. In deutlichem Gegensatz zum selbst erhobenen Anspruch stehen die über weite Strecken nur inhaltlich summierenden Feststellungen und Auf­zählungen der Charakterzüge der Frauenfiguren, die nicht ausgeführten, allen­falls assoziativ begründeten Thesen, die unreflektierte Anwendung scheinbar eindeutigerTatsachen", die der literarische Text vermittelt. Es sind keinesweg nur die stilistischen Schwächen und sprachlichen Ungelenkheiten, die es dem Leser erschweren, die angebotenen Ansätze überzeugend zu finden. Schwerer wiegt, daß die Texte auf oberflächliche Referenzobjekte reduziert werden, weil eine sorgfältige Textanalyse nicht stattfindet. Beschreibung und Generalisie­rung ersetzen die Argumentation; vornehmlich positive Eigenschaften, Ansich­ten und Handlungsweisen werden bedenkenlos auf der Haben-Seite des Frau­enkontos verbucht, ohne daß eine Problematisierung, eine Frage nach der Kon­stituierung des Frauenbildes beim Leser durch die Mittel des Erzählers oder Dramatikers ernsthaft in Erwägung gezogen würde.

Was erfahren wir nun über Fontanes Frauenfiguren? Ziemlich viel - aber leider ziemlich wenig, was uns nicht schon nach genauer Lektüre der Texte und nach der Beschäftigung mit bisherigen Interpretationen deutlich gewesen ist. Daß Victoire einunkonventionelle(s) Liebesbegegnis mit... ebenso unkonventionel­len Folgen" (sic) hat (S. 93), daß Cecilein einem geschlechtslosen Himmel Frieden finden möchte" (S. 118), daß Fontaneder Berlinerin in Lene ein unver­gängliches Denkmal errichtet hat" (S. 130), daßdie Frauenfrage" in Unwieder­bringlicheine dominante Rolle" spiele (S. 159), daß die Idee der Wandlung und Wandlungsbedürftigkeit in Poggenpuhls vor allem von Frauen verkörpert werde (S. 179) - all dies kann wohl kaum als innovative Quintessenz der Über­legungen zum Frauenbild in Fontanes Romanen angesehen werden. Was erfah­ren wir über Fontanes Darstellungsmittel und -intentionen bei der Schilderung dieser Frauenfiguren und -Schicksale? Fast nichts, ist dies doch eine Frage, die sich die Verf. gar nicht zu stellen scheint; nicht einmal die möglichen Konse­quenzen einermännlichen" Erzählperspektive bei der Gestaltung weiblicher Figuren, die andere feministisch orientierte Interpretinnen so sehr interessiert, werden hier angedeutet. Die Offenheit und Allgemeinheit der Ausgangsfra­gestellung - Wie erscheint die Frau in der deutschen Literatur - erweist sich gerade wegen ihrer Schlichtheit als tückisch; der Mangel an Präzisierung und Konkretisierung behindert die Durchsetzung eines hinlänglich konsequenten methodischen wie thematischen Konzepts. Das einzige Leitmotiv, das bei der 144