Betrachtung der Romane Fontanes mit unermüdlicher Beharrlichkeit wiederkehrt, ist die behauptete Affinität seiner Frauenfiguren zu Bettina von Arnim: Alle Frauengestalten Fontanes - es geht hier übrigens fast ausschließlich um Hauptfiguren - weisen, so Ritchie, bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit ihr auf. Dies ist nun ein überraschendes und immerhin bedenkenswertes Deutungsangebot, doch ist die Häufigkeit, mit der dieses Auslegungsmuster herangezogen wird, allein nicht dazu geeignet, seine Überzeugungskraft zu erhöhen. „Daß diese Frau... Fontane beeindruckt haben muß, obwohl ihr Name selten bei ihm Erwähnung findet" (S. 67), ist keine hinlängliche Basis für die Aufzählung charakterlicher und biographischer Parallelen, die so unterschiedliche Figuren wie Katinka und Hoppenmarieken, Victoire und Franziska, Cecile und Stine unbekümmert zu einem Reigen der Bettina-Nachfolgerinnen vereinen. Da auch hier die Nennung des scheinbar Faktischen an die Stelle von Analyse und Argumentation tritt, wird Bettina von Arnim in einer Weise zur stereotypen Vergleichsfigur reduziert, die weder ihr noch den fiktionalen Frauenfiguren geschweige denn der Erzählkunst Fontanes gerecht werden kann.
Einen ganz anderen Ansatz wählt Christine Lehmann für ihre Studie. Hier erscheint Effi Briest neben Sophie von LaRoches Fräulein von Sternheim, George Sands Indiana, Ida Hahn-Hahns Gräfin Faustine, Flauberts Madame Bovary und Kate Chopins The Awakening als charakteristisches Exemplar jenes Gattungsty- pos, den die Verf. den „Verführungsroman" des „Modells Clarissa" nennt (nach Samuel Richardsons Briefroman). Der Vergleich elementarer Verlaufsund Kompositionsstrukturen ermögliche es, die verschiedenen Varianten des Typs mit einer „ganz einfachen" Grundformel zusammenzufassen: „Der Teufel klaut Gott die Frau, und die Frau wird danach mit dem Tod bestraft. Die Romane des Modells Clarissa erzählen von der Strafbarkeit und Bändigung weiblichen Eigensinns" (S. 11). Die handlich-schlichte Formel erlaubt es, die komplexe europäische Literaturgeschichte in eine überschaubare Allee von Stammbäumen zu verwandeln, so „daß alle Verführungsromane mit weiblichen Heldinnen aus dem abendländischen Kulturkreis ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. dem Modell Clarissa angehören" sollen (S. 10). (Wobei, mit Verlaub, vieles von dem, was hier als „Modell Clarissa" verpackt angeboten wird, mindestens ebenso aufschlußreich unter den einschlägigen Stichworten eines Motivlexikons nachzuschlagen ist.) Die Fragen, die sich dem Leser hier im Hinblick auf die Einzelanalyse der Werke stellen - ob nämlich diese wenigen, holzschnittartig reduzierten Merkmale hinreichend sind für die Konstituierung eines (neuen?) Gattungstypos, ob ein solches Modell dem individuellen Roman gerecht werden kann, ob nicht gerade die Varianten und Abweichungen interessanter sind als die Formel - beantwortet die Autorin vorsorglich selbst: „Die genaue Analyse formaler, inhaltlicher und auch stilistischer Elemente unter dem Gesichtspunkt der Darstellung und Bewertung des Modells soll nicht die Intention des Autors oder der Autorin zu Tage fördern, sondern möglichst genau die Grundstruktur und den ideologischen Gehalt des Romanbaus sichtbar machen" (S. 11). Als der ideologische Gehalt des Romans Effi Briest kristallisiere sich das Schicksal der isolierten und ohnmächtigen Kindfrau heraus, die das Opfer der von ihrem Mann im Einklang mit den
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