Dr. Michael Nüchtern, Evangelische Akademie Baden
„Was hat nicht alles Platz in eines Menschen Herzen..." Fontanetagung der Evangelischen Akademie Baden vom 14.-16.2.92*
Am 3. August 1943 schrieb der zwei Jahre später hingerichtete Theologe Dietrich Bonhoeffer aus dem Gestapogefängnis in Tegel an seine Eltern: „Würdet Ihr mir bitte etwas Fontane schicken. Frau J. Treibei, Irrungen, Wirrungen, Stechlin. Diese starke Lektüre der letzten Monate wird auch meiner Arbeit zugute kommen. Man lernt aus diesen Sachen oft mehr für die Ethik als aus Lehrbüchern..." Wie wir aus seinen Briefen wissen, arbeitete Bonhoeffer im Gefängnis an seiner theologischen Ethik und las dabei gleichzeitig Fontane und andere Romane des 19. Jahrhunderts. Die weltliche Literatur half der Theologie und auch dem Theologen in seiner Grenzsituation der Gefangenschaft.
Diese Reminiszenz begründet noch nicht, warum eine Evangelische Akademie eine Tagung über Fontane veranstaltete. Evangelische Akademien sind Einrichtungen an der Außenhaut der Kirche. Sie verstehen sich als Stätten des Dialogs zwischen Kirche und Gesellschaft. So gehört auch zu ihren Aufgaben, den Spuren von kulturell geprägter Christlichkeit außerhalb kirchlicher oder konfessioneller Bindungen und Verbindlichkeiten nachzuspüren. Von daher wird für einen solchen Veranstalter Fontane interessant. Tatsächlich ist das Romanwerk Fontanes reich an verborgener wie offensichtlicher Theologie und Frömmigkeit, die zur Welt gehören, die er schildert. Zum Offensichtlichen gehört der bunte Strauß der Pastorengestalten, der Seidentopfs und Lorenzens, der Sör- gels und Gigas. Sie sind selbstverständliche Gesprächspartner in der Bauernhütte wie im Herrenhaus, Menschen, die die christliche Barmherzigkeit zum Teil schuldig bleiben, zum Teil erfahrbar machen. Schuldig bleiben sie sie, wo sie die „Glaubenssätze des Christentums über die Lebenssätze" stellen. So wundert es nicht, daß der bei Fontane am häufigsten erscheinende biblische Bezug, als Text zitiert oder nur als Anspielung, Verse aus den Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu (Matthäus 5) sind: „Aber am wahrsten ist: Selig sind, die reinen Herzens sind”, so läßt er eine Figur in Vor dem Sturm sagen. Nicht zufällig gipfelt auch Pastor Lorenzens Grabrede für Dubslav von Stechlin in dem Urteil von der Lauterkeit seines Herzens. Leitmotivisch - um noch ein weiteres Beispiel zu nennen - wird ein Bild von Jesus und der Ehebrecherin (Johannes 8) - in L'Adultera verwendet. Wenn es von der weiblichen Gestalt auf dem Bild heißt: „Es ist soviel Unschuld in ihrer Schuld...", so spiegelt sich darin nicht nur die Komplexität des Fontaneschen Menschenbildes, sondern auch ein säkularer Protestantismus. All diese literarisch-theologischen Muster motivierten zur Beschäftigung mit Fontane, konnten aber nicht der ausschließliche Gegenstand der Tagung sein, sollte doch der Autor in keiner Weise „vereinnahmt" werden. Mit dem Fontane-Zitat als Titel der Tagung „Was hat nicht alles Platz in eines
*Die Referate der Tagung erscheinen in einem Protokollband, der voraussichtlich Ende 1992 bei der: Ev. Akademie Baden (Postfach 2269, W-7500 Karlsruhe) zu bestellen ist. 157