Heft 
(1993) 56
Seite
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darf. Jedenfalls spielt einbewußt polemischer Kommentar" (S. 5) bei der Ver­spätung wirklich keine Rolle; der kommt erst.

Zusammenfassend nimmt Mauthner zweimal Anlauf, um zu begründen, warum er seine Korrespondenz - die Briefe von ihm und an ihn - nicht veröf­fentlichen läßt. Beide Male ist sein Ärger über Fontane, dessen Briefschreiber­verhalten in den Familienbriefen Mauthner unwahrhaftig und rein zweckbe­stimmt erscheint, der Ausgangspunkt. Im ersten Abschnitt mischt sich etwas Selbstkritik ein, aber dann weitet sich seine Ablehnung zu einer Verdammung der Korrespondenzveröffentlichung überhaupt aus, wobei er sich beim Thema der genauen Wortlautwiedergabe von Bismarcks Gesprächen verheddert. Beim zweiten Anlauf wird es problematischer, weil er sich an die an ihn gerichteten Briefe des ermordeten Politikers Gustav Landauer, der Sängerin Lilli Lehmann und Marie von Ebner-Eschenbach als so intim erinnert, daß er jene Freund­schaften nicht durch Dritte entweiht sehen möchte. Und noch einmal beschlei­chen ihn Zweifel über unaufrichtige Briefeschreiber, wobei ihm zum zweiten Male der Redakteur Julius Rodenberg sozusagen als Nebenbuhler einfällt, wo der docheinfach ein Lumpenkerl...". Bei diesem Schimpfwort scheint dem Todkranken die Kraft ausgegangen zu sein.

Alle Wissenschaftszweige werden gemeinhin in Forschung und Lehre aufge­teilt, wobei die Gewichtung selten gleichmäßig ausfällt. In der Literaturwissen­schaft überwiegt die Lehre gegenüber der Forschung so stark, daß außerhalb des Seminars häufig Zweifel an der BezeichnungForscher" laut werden, denn damit verbindet die Allgemeinheit eine ausgesprochene Entdeckertätigkeit. So mag es verständlich sein, daß ein Germanist in Aufregung verfällt, wenn er im Klubhaus der toten Dichter eine Fundsache anmelden kann. Dennoch interes­siert selbst die Entdeckung ungeahnter Werke eines Meisters, wie die beiden Skizzen des jungen Fontane im Archiv des Cotta Verlages, 4 nur eine kleine Zahl von Fachleuten. Mußten die Herausgeber deswegen zum Selbstverlag greifen, weil sie das polemische Sagen haben wollten? Oder lagen die Gründe nicht etwas näher? Hierzu ein Gegenbeispiel:

Als ich neulich die Erste Sinfonie des Jugendfreundes Gustav Mahlers, Hans Rott, im Rundfunk hörte, war ich - wie bestimmt jeder Mahler-Liebhaber - zutiefst erschüttert, weil sie nicht nur unheimliche Einblicke in Mahlers Genie erlaubt, sondern auch eine menschliche Tragödie ahnen läßt, die vielleicht nur mit der Georg Büchners zu vergleichen wäre.

Was hat denn dieser musikalische Exkurs nun mit dem vorliegenden Fall zu tun? Er illustriert, daß solche Entdeckung im Kulturerbe erst Beachtung ver­dient, wenn der Fund an sich Substanz hat, wenn er unser Wissen - nicht nur unsere Wissenschaft - vertieft und unsere Kultur bereichert. Fritz Mauthners Totenbettaufzeichnungen dagegen werden niemanden erfreuen, es sei denn, er ist Wissenschaftler und auf der Suche nach Zeitzeugen. Wo die Herausgeber sich vorerst in Bescheidenheit hätten üben sollen, haben sie eher versucht, eine Sensation zu propagieren.

Aber selbst die schönste Sensation entschuldigt den Entdecker nicht, der dabei die Wissenschaftlichkeit vernachlässigt.

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