Jeder Hobbyarchäologe beschreibt seine Funde besser als Betz und Thunecke. In allen drei Veröffentlichungen, wo auf diesen „Text" - ein fürchterlicher Begriff, der heutzutage für jede Manipulation herhalten muß - Bezug genommen wird, fehlt die Beschreibung des Gegenstandes, jenes handelsüblichen Notizbuches Nr. 22 im Leo Baeck Archiv. Stattdessen wird vage und abstrakt von „Texten" gesprochen, die alsbald zu „Manuskripten" gekürt und mit noch jeder erdenklichen Überschrift versehen werden. Der Rezensent hat das Original in New York selber studiert und besitzt eine Fotokopie davon. Es hat keine weitere Überschrift als die auf der ersten in Blei beschriebenen Seite: „Zu Erinnerungen II." sowie das Datum „9.XI.22". Die Seiten des Notizbuches sind nachträglich numeriert worden, vermutlich vom Archivar. Der erste Abschnitt, der als „Berliner Jahre" veröffentlicht wurde, füllt die ersten 47 Seiten, der jetzt erschienene zweite Abschnitt Seite 48 bis 57. Danach ist das Heft leer. Da Mauthner schon krank war und bereits am 26. Juni 1923 verstarb, kann die Bemerkung, „diese Zeilen <können> der einfache Ausdruck seines letzten Willens <..> sein", weder überraschen, noch sonderlich ins Gewicht fallen. Mit der wichtigtuerischen Formulierung, dieser Abschnitt sei „aufgesetzt während seiner letzten Jahre" (S. 21), deuten die Herausgeber etwas an, was die wenigen Zeilen nicht hergeben. Erstens entstanden sie in Mauthners letztem halbem Lebensjahr, und zweitens wurden sie nicht, wie das Wort suggeriert, notariell „aufgesetzt", denn der dazugehörige Rahmen fehlt ganz, etwa die Nennung von Zeugen bzw. Vertrauenspersonen oder äußere Formmerkmale. Diese unfertigen, z.T. bitteren Zeilen herauszureißen und als den letzten Willen zu proklamieren, ist doch nur Sensationshascherei. Daran ändert nichts, daß Mauthners Erben und Freunde sie praktisch als Verfügung verstanden und seine Briefe nicht freigegeben haben. Mauthner schreibt selbst, er habe diese Anweisung schon öfter ausgesprochen, so daß Notizbuch 22 in Jörg Thunecke womöglich seinen ersten Leser gefunden hat. Überhaupt war die getrennte Veröffentlichung der beiden Teile kaum zu begründen, denn sie sind zweifellos kurz nacheinander niedergeschrieben worden. Das einzige Anzeichen einer Trennung in den Aufzeichnungen ist eine wellige Linie oben auf Seite 48. Allerdings fällt das Schriftbild dadurch verschieden aus, daß die Schrift ab S. 48 wesentlich schärfer mit dem Papier kontrastiert - als ob dieser Abschnitt in einem Moment zurückkehrender Stärke begonnen wurde, der aber genauso schnell - beim Gedanken an Julius Rodenberg - wieder verflog.
Im Gegensatz zur Veröffentlichung des ersten Abschnitts, der zahlreiche, auch kaum erklärliche Fehler enthält, findet der Rez. hier im zweiten nur drei fehlerhafte Lesarten, von denen keine den Sinn stört: Seite 7, Zeile 6: „bestimmung" statt „Bestimmung"; S. 8, Z. 19: „Eitelkeiten" statt „Eitelkeit" und 8. Z.v.u.: von „urteilte" ist das Schluß-"e" durchgestrichen. Ein wenig verwunderlich ist der Umstand, daß der Text plötzlich abbricht und trotzdem Korrekturstellen - allerdings unvollständige - aufweist. Es wäre daher angebracht gewesen, den nicht einmal drei Seiten langen Text etwas größer und lesbarer zu gestalten, da er ohnehin zwischen den insgesamt 49 Druckseiten zu verschwinden droht. Und wenn Porträts von Fontane und Mauthner kopiert werden konnten, warum nicht auch die Handschrift?
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