Barbara Bartos-Höppner: Die Schuld der Grete Minde. - München: Bertelsmann Verlag 1993. 411 S.
(Rez.: Axel Kahrs, Lüchow)
Ein tiefer, aber nicht immer unproblematischer Einblick in die Autorenwerkstatt bietet sich Fachleuten und Laien, wenn Schriftsteller historische Themen bearbeiten, auf dokumentarisch belegte Ereignisse zurückgreifen oder reale Örtlichkeiten zum Schauplatz ihrer fiktionalen Geschichten machen.
Ob die Lübecker Bürger die „Buddenbrooks" nach Ähnlichkeiten mit lebenden Personen durchforsteten, Goetheaner die Prozeßakten gegen die Kindermörderin Susanna Margaretha Brandt für die Gretchen-Tragödie studieren oder Fontane-Spezialisten in Tangermünde recherchieren: Stets geht es um das schillernde Wechselspiel von Kreativität und Realität; geschichtliche Treue oder freie Deutung, phantasievolle Ausschmückung gegen dokumentarisches Rollenspiel - der Möglichkeiten sind viele, und sowohl Autor als auch Leser beteiligen sich seit Jahrzehnten an diesem literarischen Vexierspiel.
Im Fall Theodor Fontanes und seiner Novelle „Grete Minde" hat die Forschung den Entstehungsprozeß des Textes und seine historische Vorlage gründlich durchleuchtet. Fontane wählt 1878, am Beginn seiner Laufbahn als freier Schriftsteller, das Thema der Tangermünder Brandstifterin, das ihn wegen seiner psychologischen Deutungsmöglichkeiten reizt; möglicherweise beabsichtigte Anspielungen auf aktuelle Ereignisse wurden von Klaus Globig und Paul Irving Anderson erörtert (1). Das Aktenmaterial, das Fontane damals zur Verfügung stand, geht eindeutig davon aus, daß Grete Minde als Schuldige am großen Stadtbrand von 1617 angesehen werden muß, und auch die Novelle läßt keinen Zweifel: Für Fontane ist Grete Minde die junge Brandstifterin, die „durch Habsucht, Vorurteil und Unbeugsamkeit von seiten ihrer Familie, mehr noch durch Trotz des eigenen Herzens... zu Grunde geht", so in einem Brief Fontanes an Paul Lindau vom 6. Mai 1878 (2).
Der Reiz dieser Erzählung liegt auch darin, daß Gretes Charakter, der anfangs mit der liebevollen Sympathie des auktorialen Erzählers gestaltet wurde, sich in die wahnhaften Züge einer Kohlhaas'schen Figur verzerrt. Fontane erfuhr erst kurz vor dem Erscheinen seiner Novelle von Forschungen des liberalen Reichstagsabgeordneten Parisius, der dann in seinen 1883 erschienenen „Skizzen aus der Altmark" (3) die Unschuld der Grete Minde nachweist und einen Justizmord der miteinander verschworenen Patrizierfamilien Tangermündes beklagt.
Die daraus resultierenden Überlegungen Fontanes, der zweiten Auflage seiner Novelle von 1887 ein erklärendes Vorwort voranzuschicken, verlaufen im Sande. Schon Jahre zuvor stellte Fontane klar: „In 'Grete Minde'-Angelegenheiten empfing ich einen sehr interessanten Brief von ... Parisius, er enthält ein freundliches Wort, das aber, worum es sich handelt, hat mit meiner Novelle nur mittelbar z u tun." (4)