Heft 
(1993) 56
Seite
115
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Wer daher heute das Thema der Grete Minde aufnimmt, findet sich in einem Geflecht gewachsener literarischer und historischer Bezüge, die schwer zu umgehende Vorgaben enthalten oder gängige Interpretationsmuster aufdrän­gen; der beim Leser sicher zu erwartende Vergleich mit Fontanes Novelle tut ein übriges. Auch Barbara Bartos-Höppner, Jugend- und Sachbuchautorin, hat sich mit einer Darstellung der Elbe-Geschichte und mit ihrer Familien-Saga Die Bonnins" inhaltlich wie formal erst einmal an das Thema herangeschrie­ben. Ihr RomanDie Schuld der Grete Minde" geht Fontane und seiner Novel­le konsequent aus dem Wege und bleibt ihr doch stark verhaftet: Die Autorin wählt die Darstellungsform des historischen Romans, wie er seit Willibald Ale­xis, Felix Dahn, Gustav Freytag und eben Theodor Fontane erprobt ist - ein Sit­tengemälde aus Tangermünde entsteht vor den Augen des Lesers, prall gefüllt mit Landeskunde, Alltagsgeschichte, Brauchtum und städtischer Kultur. Wo Fontane ausspart oder nur andeutet, greift Bartos-Höppner hinein ins volle Menschenleben, läßt ihrer Liebe zum sorgfältig recherchierten Detail freien Lauf. Vor diesem anschaulich und kenntnisreich beschriebenen Treiben entfal­tet sich eine Intrige des Patriziergeschlechts der Mindes gegen die nie als legiti­me Erbin anerkannte Grete, Tochter des aus der Art geschlagenen Peter Minde. Wenn Fontane den Charakter der Grete in den Mittelpunkt stellt, ihren Verlet­zungen und Entstellungen mit der psychologischen Sonde nachspürt, nutzt Bartos-Höppner die Erbschaftsansprüche der jungen Frau, um das Leserinter­esse auf die Machenschaften einer habgierigen Gesellschaft zu lenken. Noch der Feuertod Gretes mit vorangehender Tortur spiegelt nur die brutale Skru­pellosigkeit der städtischen Oberschicht.

Bartos-Höppner hat die neuere Aktenlage ausführlich studiert und hält sich an die Vorlagen: Viele der Handlungselemente, Personen und Örtlichkeiten sind belegt, entsprechen den Erkenntnissen der Historiker. Fontanes dichte­risch freies, zur Deutung reizendes Ende Gretes im brennenden Kirchturm ist bei Bartos-Höppner nicht denkbar. So bleibt der Autorin, die in der Anklage einer korrupten Gesellschaft auch eine Ehrenrettung für Grete Minde versucht, relativ wenig Spielraum zur eigenständigen literarischen Gestaltung. Ihr aukto- rialer Erzähler Ambros Ambrosius, der aus der Retrospektive berichtet, wie es die Realisten des 19. Jahrhunderts exemplarisch vormachten, hat viel von Fon­tanes mildem, verzeihendem Verständnis, und die oft gerühmten Motivketten der Novelle finden sich hier in den bedrohlichen Feuer-Symbolen oder dem Freiheits-Vogel wieder.

Wo Fontane den Spruch vom Tangermünder Rathaus:Verlaß dich nicht auf dein Gewalt" im Schluß leitmotivisch wiederholt, kommentiert Bartos-Höpp­ner mit der Mahnung,daß die Wahrheit und Ordnung nicht aus der Welt kommt" (S. 17, 152, 275, 315), mehrfach die Handlung - ein Spruch, der histo­risch auf die Katte-Tragödie zurückzuführen ist, die ihren Ausgang im Tanger­münde benachbarten Wust nahm, dem Stammsitz der Kattes.

So ist Barbara Bartos-Höppners Roman, der ungebrochen in der Tradition des historischen Erzählens steht, eine Hommage an Fontane, eine respektvolle Ver­neigung vor seinem handwerklichen Können und Wirken. Doch macht dieses Verhaftetsein auch die Grenzen deutlich, dieDie Schuld der Grete Minde