Heft 
(1994) 57
Seite
110
Einzelbild herunterladen

William L. Zwiebel: Theodor Fontane. -New York: Twayne Publishers 1992.149 S.

(Rez.: Helen Chambers, Leeds)

Zwiebels Fontane-Buch ist ein Kunststück wohlinformierter Konzentrati­on. Die amerikanische Reihe "Twaynes World Authors Series", in der es erscheint, bietet Einführungen für Nichtspezialisten in Leben und Werk von Autoren von Weltrang. Daß Fontane erst 1992 in diese Reihe aufge­nommen wurde, spricht für Zwiebels abschließende Bemerkung, daß Fon­tanes Werke über den deutschsprachigen Raum hinaus weitgehend unbe­kannt geblieben sind, teilweise weil er Opfer der in der angelsächsischen Welt durch zwei Weltkriege ausgelösten Germanophobie wurde. Diese Abneigung richtete sich vor allem auf Preußen, welches unvermeidlich Assoziationen von Militarismus wachrufe. Diese Studie fokussiert die preußischen Dimensionen im Erzählwerk Fontanes, die der Verfasser diffe­renziert und einsichtsvoll aufzeigt. Das zentrale vierte Kapitel mit dem Titel "Wilhelminische Porträts - all diese guten Preußen" ("Wilhelmine Portraits - Good Prussians All") behandelt L'Adultera; Cécile; Irrungen, Wir­rungen; Stine; Frau Jenny Treibei; Mathilde Möhring und Effi Briest. Zu den "guten Preußen" werden auch Franziska Franz in e Graf Petöf y und Christin Holk in Unwiederbringlich gezählt. Zusammenfassend argumentiert Zwie­bel, daß Fontanes Stärke und gleichsam seine Schwäche darin besteht, daß den meisten seiner Romane die dem preußischen Charakter innewohnen­den Probleme und das gesellschaftliche Grundmuster des Zweiten Reiches zugrundeliegen. Obwohl Fontane ein hervorragender Künstler sei, bleibe sein Werk inhaltlich beschränkt und in erster Linie von lokalem Interesse.

Nach dem einleitenden Kapitel, das Biographie und Werkgeschichte geschickt zusammenfaßt, behandelt Zwiebel die einzelnen Romane und Novellen, ihre Entstehung und Rezeption, um dann einen Überblick über Inhalt und Form sowie kritische Ansätze zu liefern. Dabei weist er einen ausgeprägten Sinn für Chronologie auf; literarische Entwicklungsphasen Fontanes, historischer Hintergrund, Aspekte des literargeschichtlichen Rahmens und relevante biographische Details sind in seine Darstellung integriert. Eindeutig wertend gibt er dem Ausdruck, was er für gelungen hält und was er als "Fehler" ("flaws") betrachtet. Die Urteile werden meist sorgfältig begründet, wobei auseinandergehende Meinungen unter den Kritikern gegeneinander abgewogen werden, unter häufiger Berufung des Verfassers auf Demetz.ft 1 Unwiederbringlich und Mathilde Möhring unterwir er keinem endgültigen Urteil, weil er das bei diesen ambivalenten Werken für problematisch hielte.

Absichtlich bietet Zwiebel ausführlichere Interpretationen von bisher eher vernachlässigten Werken. In h Grete Minde sieht er Gretes Suche nac ihrem Selbst als den Kern der Novelle und hier, wie auch in den anderen Interpretationen, betont er die zentrale Rolle der Psychologie und der Cha- rakterisierung. Als Grundmuster im Werk identifiziert er die i- psycholog sche Studie eines Individuums, dessen Verstoß gegen geltende ethische

110