Heft 
(1994) 57
Seite
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Erzählen zum Berichten zu relativieren. Welche Rolle spielt nun Fontane in diesen Zusammenhängen? Vollers-Sauer sieht in Meine Kinderjahre offen­sichtlich eine Erweiterung und zugleich Verdichtung selbstbiographischen Erzählens. Im Unterschied zu Wolfgang Paulsen in seinem Buch "Das Ich im Spiegel der Sprache" macht sie für die ideellästhetische Wandlung auto­biographisch grundierten Erzählens in Meine Kinderjahre keine historisch­gesellschaftlichen Grundlagen verantwortlich. Paulsen sieht die Ursache für Fontanes Beschränkung auf die Kindheit bei gleichzeitiger Vertiefung der ästhetischen Substanz in der Reduzierung und Schrumpfung des Ichs durch die verstärkte Verdinglichung und Anonymisierung der Welt. "Gerade gegen diese Schrumpfung aber hatte Fontane in seiner ersten Autobiographie, dem Roman, angeschrieben, während er sich in der zwei­ten schon sehr in den Bereichen des Berichtens bewegte." 1 Vollers-Sauer nimmt nicht auf den unmittelbar gesellschaftlichen Bereich Bezug. Zunächst stellt sie epigonalen Niedergang der Autobiographie im Verlauf des 19. Jahrhunderts fest. Als Beispiele für die sentimentalisierte und harmonisierte bzw. für die historiographisch berichtende Autobiogra­phie werden das "Buch der Kindheit" (1847) von Bogumil Goltz und die 1860 verfaßte Selbstbiographie von Georg Gottfried Gervinus genannt. Die Ursache für Fontanes Konzeption des autobiographischen Romans bzw. seines Gesellschaftsromanes überhaupt sieht die Verfasserin so: "Theodor Fontane ist insofern am Ende des 19. Jahrhunderts eine Ausnahme, weil er die Trennung zwischen literarischen Darstellungsmodalitäten und Histo- riographie wesentlich geringer veranschlagt hat als seine Zeitgenossen. Als Beobachter seiner Zeit hatte er eine andere, neue Bedrohung entdeckt, die der Kunst, besonders der des Romans, die Legitimation für repräsentative Aussagen über das Leben und Zusammenleben streitig zu machen begann: den naturwissenschaftlichen Positivismus." (S. 133) Fontane habe Wilhelm Diltheys scharfe Trennung zwischen den erklärenden Naturwissenschaften und verstehenden Geisteswissenschaften nicht mitvollzogen und sich zum zugleich erklärenden und verstehenden Gesellschaftsroman bekannt. Auch habe er zwischen Reportertum und Roman, zwischen reportagehafter Sachlichkeit und künstlerischer Beseelung vermittelt.

Was sind nun die besonderen Kennzeichen von Fontanes Autobiographik, namentlich von Meine Kinderjahre, in der Sicht von Vollers-Sauer? Ausge- end von Fontanes Romanbegriff in der Rezension über Paul Lindaus "Der nac h dem Westen", betrachtet sie Fontanes Ästhetik als eine solche der Nähe und des "Nahebringens" bzw. der "Mitleidenschaft". Vom Gesell- sce h aftsromancier Fontane sei keine konventionelle Autobiographie, kein Geogie" (S. sch ichte seines inneren Werdens, keine "literarische Charakterol

134) zu erwarten gewesen. So habe er mdie it Meine Kinderja hre einen in Ven rgangenheit zurückverlegten autobiographischen Gesellschaftsroma geliefert. Hauptheld sei der Vater, der in seiner Neigung zur Zweideutig- ks­ eit und zu unkonventionellem Benehmen und durch den dadurch au gelösrzien- t e n Str eit mit dem Ehepartner mit dem alten Briest und Komme

rat v fungiere an d er Straaten verwandt und vergleichbar sei. Der Erzähler

aanek- ls Beobachter, Zuhörer und Stichwortgeber. Der Roman sei episch-

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