Heft 
(1994) 57
Seite
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spürt Günter de Bruyn Fontanes schriftstellerischer "Mischtechnik" nach, die sich zwar soweit wie möglich an der Realität orientierte, von dieser aber auch abwich, wenn es die Komposition zu verlangen schien. Im Oder­land-Essay vergleicht de Bruyn literarische Orte mit wirklichen geographi­schen Gegebenheiten. Fontanes "Genauigkeit ist nämlich zum Teil eine fik­tive, die sich jedoch mit der tatsächlichen ständig mischt", schreibt er (S. 142). Er demonstriert dies u.a. an der Lokalisierung von Hohen-Vietz, das es nicht wirklich gibt oder gegeben hat, dessen Kirche in ihrer Gestalt der Friedersdorfer, nach ihrer Lage jedoch der von Reitwein nahekommt. "Das Erfundene", schließt de Bruyn, "ist also das in andere Zusammenhänge gebrachte Gefundene, eine durch den Romanautor neugeordnete Realität." (S. 142/143) Und: "Hohen-Vietz also gleich Reitwein? Solche Gleichungen sind Romanen nie angemessen, weil sie dem Autor das Recht am Fiktiven beschneiden würden." (S. 153)

Man möchte solche Abhandlungen wie die über Kossenblatt und über das Oderbruch und seine Umgebungen besonders gern all jenen ans Herz legen, die in Fontanes "Wanderungen", seinen Romanen und Erzählungen noch immer und immer wieder eine Art Baedeker sehen und oft vergebens nach darin beschriebenen Punkten suchen. Als probates Heilmittel dage­gen empfehlen sich de Bruyns Erkundungen um so mehr, als er es meister­lich versteht, Schilderungen Theodor Fontanes auf den Grund zu gehen, ohne den Schmelz fontanescher Erzählkunst in Frage zu stellen oder gar zu beschädigen.

Was nimmt den Leser für dieses Buch ein? Ist es die Gründlichkeit der Recherchen, die Erschließung kaum bekannter, schwer zugänglicher Quel­len? Ist es die Reichhaltigkeit an neuen Informationen, Sichtweisen, Denk­anstößen? Oder ist es des Verfassers Verbundenheit mit diesem herb-schö­nen Land, besonders mit seinen abseitigen Winkeln? Ist es seine fontanisch anmutende kritische Bewunderung dessen, was Preußen einst die Wert­schätzung der Welt eintrug? Ist es der Schmerz, die Bitterkeit, der Zorn ob des Verfalls oder der Zerstörung der Natur und vieler Zeugnisse einstiger Größe durch den oder im Gefolge des schrecklichsten der Weltkriege? Für den einen mag es dieses, für den anderen jenes sein. Letztlich dürften wohl alle diese Eigenheiten zum Lesen anregen.

Manch einen befremdet vielleicht ein gewisses Abstandnehmen des Autors gegenüber dem Brandenburg und den Brandenburgern von heute. "Die Gestalten der Historie wie auch die Erzählungen der Steine sind dem Schriftsteller... näher als die Menschen der Gegenwart", hieß es in einer der ersten Besprechungen des Buches. Aber: "Flieht de Bruyn? Nein. Sichent- fernenn aus der Raserei der Zeit, das ist etwas anderes als Flucht, wenn ma

es v ollführt wie de Bruyn." 1 Dem schließt sich der Schreiber dieser Zeilen gern an.

Und dennoch: Gebietet es eine realistische Sicht auf das Land Brandenburg

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