Heft 
(1994) 57
Seite
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befragen, "Lust am Erkennen und Verstehen der Machart eines Romans" zu wecken (S. 6).

Der Band ist in einen "allgemeinen" und einen "praktischen" Teil geglie­dert, beide haben etwa den gleichen Umfang. Im ersten Teil werden für das Interpretieren unerläßliche Operationen beschrieben und die dazu notwen­digen Begriffe und Voraussetzungen erörtert, der zweite Teil bietet einen "Leitfaden zur Romaninterpretation" und führt an Beispielen aus der deut­schen und internationalen Literatur Interpretationen vor.

Im allgemeinen Teil vermittelt Gelfert zunächst grundlegend Historisches zur Entwicklung des Romans; mit einer Erörterung der Definition des Engländers E. M. Förster von 1927, daß der Roman eine "Prosafiktion von nicht weniger als 50000 Wörtern" sei (S. 7), grenzt er das Genre hinlänglich gegenüber anderen Prosaformen ab. Großen Wert legt Gelfert anschließend darauf, die entscheidende Funktion des Erzählers im Prozeß des Erzählens zu verdeutlichen. Er betont, daß der Erzähler "in aller Regel" ein vom Autor erfundenes Element der Erzählung ist, nicht der Autor selbst - Leh­rende wissen ein Lied davon zu singen, wie schwer Schülern (und nicht nur ihnen) diese Einsicht oft fällt.

Es folgen Ausführungen zur literarischen Figur als dem Subjekt, ohne das Erzählen nicht möglich wäre und ohne das die fiktionale Welt, auf die sich der Leser einzulassen hat, nicht entstehen könnte. Gelfert definiert literari­sche Figuren als Charaktere und unterscheidet wie sein englischer Kron­zeuge Förster "flache" und "runde" Charaktere, die er von archetypischen Charakterstrukturen absetzt. Das Herangehen insgesamt zielt darauf, die Struktur literarischer Texte aufzudecken. Deshalb beschreibt Gelfert aus­führlich unterschiedliche Handlungsstrukturen und benennt Grundmuster von Handlungen, die der Leser gewissermaßen wie ein Detektiv aufspüren soll. Auch die folgenden Abschnitte (Schauplatz/Setting; Leitmotive; Erzählrhythmus und Erzählmuster; Spannung; Darstellung der Innenwelt; Sechs Arten, einen Roman anzufangen) bieten gute Einstiegsmöglichkeiten zur Romaninterpretation. Zur Diskussion anregen möchte Gelfert mit sei­nem Vorschlag, das Konstrukt "Rhyth-Muster" (aus Erzählrhythmus und Erzählmuster, gebildet wie das englische aus smoke und fog entstandene smog) einzuführen. Er will damit die enge Zusammengehörigkeit dieser beiden Termini deutlich machen. Ich teile seinen Zweifel, daß dieser Vor- schlag genügend Nachahmer finden wird. Die Überlegungen zu diesem Komplex insgesamt regen aber dazu an, erneut über grundlegende Kom­positionsprinzipien fiktionaler Prosa nachzudenken, Eine Arbeit wie die vorliegende muß sich auch mit Romantypologien befassen. In Auseinandersetzung mit W. Kayser und Franz K. Stanzel bie- tet Gelfert einen eigenen Versuch einer solchen Klassifikation an: An die Stzt t e lle der Kayserschen Substanztypen und der Erzähltypen Stanzels se er Fiktionstypen" - er fragt danach, wie sich die Wirklichkeit des Romans zs ur "realen" Wirklichkeit verhält. Dabei sieht er vier Möglichkeiten, au denen er vier Fiktionstypen ableitet (S. 87 ff). Ich halte das für überlegens- wert, weil Gelfert nicht bei der Technik des Erzählens ansetzt, sondern

be im Wesen der Fiktion.

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