Heft 
(1994) 57
Seite
124
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Lesenswerter Abschluß des allgemeinen Teils: Überlegungen zum Pro­blem des Kitsches in der erzählenden Prosa. Auch hier natürlich das not­wendige Bemühen um Übersichtlichkeit - Gelfert hat fünf Typen von Kitsch gefunden und führt sie mit z.T. schaurig-schönen Beispielen aus Texten von Ganghofer, Binding, Max Halbe und anderen vor. Seine Bemerkungen über die Unterscheidung von Kunst und Kitsch können (nicht nur jungen) Lesern beim Erkennen von Kitsch helfen: Kunst ist nur durch Kennerschaft zu genießen, beim Kitscherlebnis umgeht man kriti­sche Schranken.

Im praktischen Teil empfiehlt Gelfert zunächst einen "Leitfaden zur Ro­maninterpretation", führt dann an Thomas Manns Buddenbrooks anhand dieses Leitfadens Elemente einer Formanalyse vor und bietet schließlich neun Beispielinterpretationen an, bei denen aus Platzgründen auf die Ana­lyse formaler Elemente verzichtet wird.

Der "Leitfaden" schlägt eine mögliche Folge von Analyseschritten vor, an deren Beginn die Bestandsaufnahme der formalen Merkmale des zu inter­pretierenden Romans anhand einer "Check-Liste" mit den zuvor behandel­ten Termini (Erzählform, Erzählperspektive usw.) steht. Der Leser soll ein Bild von der komplexen Struktur des Textes bekommen; erst nach einer ganzen Reihe weiterer Analyseschritte begibt er sich auf das Gebiet der Interpretation. Immer wieder betontes Ziel des gesamten Komplexes ana­lytischer und interpretatorischer Arbeit: kognitive Einsicht und ästheti­scher Genuß des Kunstwerkes.

Die Beispielinterpretationen folgen keinem starren Schema, sie sind alle­samt anregend zu lesen. Gemeinsam ist ihnen der Blick auf die ästheti­schen Wirkungsmöglichkeiten der Werke. So arbeitet Gelfert in der ersten Interpretation (Goethes Wahlverwandtschaften, 1809) sehr schön das Artifizi­elle des Textes heraus und bemüht sich um eine problemreiche Erörterung seiner Sinnpotenz. Bei Dickens' Roman Große Erwartungen (1860/61) beschäftigt er sich mit der Kunst des englischen Autors, einen "Erzähltep­pich" zu knüpfen und Themen auf eine Art und Weise zu entwickeln, wie das in der Musik geschieht. Die Interpretation von Thomas Hardys Tess von den d'Urbervilles (1891) lenkt den Blick auf Wesensmerkmale der Gattun­gen, indem Bezug auf die Dramatik und das Element des Tragischen genommen wird. Das besondere Interesse des Fontane-Freundes richtet sich selbstverständlich auf die Interpretation von Effi Briest. Entsprechend der Zielsetzung des ganzen Buches ist auch sie nicht auf überraschende neue Erkenntnisse aus, jedoch stets stichhaltig und solide. Gelfert stellt den Roman in die bekannte Ahnenreihe mit Flauberts Madame Bovary (185/) und L. Tolstois Anna Karenina (1875 - 18 77). Gemeinsamkeiten und Unter­schiede dieser Ehebruchsgeschichten werden benannt; Fontane als der älte­ste der drei Autoren wird als der modernste gekennzeichnet, weil sein Roman Effi Briest schon etwas von der Nüchternheit späterer Prosa habe. Ob man Gelfert darin folgen will, die "Ahnenreihe" mit D. H. Lawrences Lady Chatterly weiterzuführen, bleibe dahingestellt; in der alltäglichen Arbeit mit Literatur muß man jedoch bedenken, daß heutige junge Leser mit einem anderen Erwartungshorizont an Texte wie -- Effi Briest herange