Heft 
(1994) 57
Seite
127
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veränen, scheinbar lockeren, in Wirklichkeit aber bis in die Finessen beherrschten Stil charakterisiert wird. Nürnbergers interessantestes Bei­spiel für Fontanes Thematisierung der Dichtung innerhalb seiner Gedichte ist die variierte Übernahme der Zeile "Wo bist du, Sonne, blieben?" aus Paul Gerhardts Abendlied "Nun ruhen alle Wälder". Mit der an vielen Bei­spielen nachgewiesenen literaturhistorischen Verankerung Fontanes hat Nürnberger eine Poetik umschrieben, die er dann so formuliert: "Die betonte Unfeierlichkeit, die die späte Lyrik Fontanes im Gegensatz zu der feierlichen Getragenheit in Gedichten zweit- und drittrangiger Dichter cha­rakterisiert, bezeichnet in Verbindung mit dem zeitkritischen Gehalt gera­de die Unabhängigkeit ihres Autors von epochentypischen Konventionen." (S. 29)

Walter Müller-Seidel konzentriert sich in seinem Beitrag auf zwei, in sei­ner Optik für Fontane konstituierende Menschentypen, das heißt, die ner­vöse, leidende, kränkliche Frau und die alte, außenstehende Vaterfigur. In diesen beiden Typen zeigt sich nach Müller-Seidel der Zusammenhang von Psychischem und Sozialem. Kränklichkeit als Sozialkritik, Skepsis, Sprachskepsis und das Identität wiederherstellende Schreiben: In diesem Komplex sieht Müller-Seidel Fontanes Nähe zur Moderne.

Mehr Mühe als die oben vorgestellten Analysen bereiteten mir die Beiträge von Gerhard vom Hofe und Eilert Herms. In "Das Eintreten einer großen Idee" untersucht vom Hofe das Thema des Patriotismus in Vor dem Sturm. Mit der Formulierung des Titels ist der Gang der Interpretation bereits festgelegt. Kurz zusammengefaßt lautet diese: "Die Manifestation der unter den besonderen politischen Umständen wirksam werdenden Idee eines wiederauflebenden preußischen Patriotismus und der erhofften Erneuerung Preußens, mag sie auch im politisch fragwürdigen Handeln zuletzt ihren Ausdruck finden, bleibt Fontanes literarisches Interesse." (S. 40) Indem Gerhard vom Hofe das patriotische Interesse und das religiöse Interesse, so wie sie im Roman hervortreten, als Einheit, als Symbiose auf­faßt, begibt er sich der analytischen Möglichkeit, die Spannung zwischen den beiden genannten Interessen als die Basis dieses innerhalb der For­schung immer noch vernachlässigten Romans anzuerkennen.

Der Mainzer evangelische Theologe Eilert Herms stellt sich in seinem breit angelegten Beitrag das Ziel, zu beschreiben, wie Fontane das Chri­stentum im Kontext der preußischen Gesellschaft sieht und was dieses Christentum von der Aufgabe des Evangeliums her innerhalb der preußi­schen Ordnung zu leisten vermag. Diese Zielstellung ist respektabel, die konkrete Ausarbeitung hat mich jedoch nicht überzeugen können. Das lr i egt nicht an erster Stelle daran, daß Herms sich etwas viel Zeit nimmt e i n genüßliches Plaudern über die einzelnen Romane Fontanes - wobei er ers t bei L'Adultera konsterniert feststellen muß, daß seine Zeit beschränkt ist Un d daß Effi, Lene, Stine, Dubslav von Stechlin und Melusine von Barby im Wartesaal verharren müssen. Mein Unbehagen rührt von der Tatsache her, daß der Verfasser die Romane so lange knetet und bearbeitet, bis sie uni- er ke nntlich wieder zum Vorschein kommen. So unterschlägt Herms in se ner B es prechung von Ellernklipp vollends die dämonische Rolle des Schick-