jene Einladung des märkischen Geschichtsvereins zu einer Exkursion nach „Schloß Wuthenow, das neuerdings durch Th. F. eine so eingehende Schilderung erfahren hat", ein Schloß, das, wie Fontane maliziös anmerkt, „nicht blos nicht existiert, sondern überhaupt nie existiert hat" (an Emilie, 28. August 1882). Es ist vielmehr gerade die Spannung zwischen der Fiktionalität der Orte einerseits und ihrer so exakt beschriebenen geographischen Lage andererseits, auf die es Fontane ankommt: Hier liegt ein wesentlicher konzeptioneller und struktureller Unterschied zwischen der Erzählweise des Romans und derjenigen der Wanderungen. Das Bemühen um die Schaffung eigener Handlungsräume, die sich zwar an wirklich existierenden Orten orientieren, aber auch dann nicht einfach mit diesen identisch sind, wenn sie - beispielsweise - „Berlin" heißen, läßt sich schon auf der ersten Seite des Romans beobachten. Sowohl im Erstdruck im Daheim als auch in der Buchausgabe heißt es: „Die ,Singuhr' der Parochialkirche setzte eben ein, um die ersten Takte ihres Liedes zu spielen (...)". Die neueren Kommentare informieren darüber, daß das „Glockenspiel der [.. .] Parochialkirche (...) mit 37 holländischen Glocken jeweils zur halben und vollen Stunde ,Üb immer Treu und Redlichkeit' (nach der Melodie der Papa- geno-Arie ,Ein Mädchen oder Weibchen' aus Mozarts .Zauberflöte' und dem Text aus Höltys Gedicht ,Der alte Landmann an seinen Sohn'" (I/377) gespielt habe. In der Handschrift des Romans, die für das erste Kapitel einer sehr frühen Arbeitsphase angehört, ist nun zu erkennen, daß Fontane zunächst geschrieben hatte: „die ersten Takte von Befiehl du deine Wege zu spielen". Es scheint mir schwer vorstellbar, daß Fontane nicht wußte, welche Melodie die im zweiten Weltkrieg zerstörte „Singuhr" 48mal am Tag tatsächlich spielte - eine schreckliche Vorstellung - und nur aus Unkenntnis die allgemeinere Formulierung „ihres Liedes" wählte. Der ursprüngliche Wortlaut wird vielmehr als bewußte Reverenz an den so sehr geschätzten Paul Gerhardt gedacht gewesen sein. Dabei ist es hier wie bei der .wirklichen' Parochialkirche bezeichnend, daß die bloße Melodie des Glockenspiels paradoxerweise mit einem ganz bestimmten Text verbunden wird, daß aber gleichzeitig jeder, der die Melodie hört, an einen anderen Text denken kann - also im Falle der Parochialkirche nicht an „Üb immer Treu und Redlichkeit", sondern an die Papageno-Arie, oder im Falle des Münchner Rathaus-Glockenspiels nicht an „Prinz Eugen, der edle Ritter“, sondern an das vormärzliche „Bürgerlied". Eben diese prinzipielle Vieldeutigkeit hat Fontane auf die erdichtete Singuhr der Parochialkirche in seinem gedichteten Berlin übertragen, indem er den ursprünglich gewählten Titel des Gerhardtschen Gedichts durch die Worte „ihres Liedes" ersetzt hat. Hätte Fontane die Parochialkirche in einem Wanderungs-Kapitel beschrieben, so hätte er mit einiger Wahrscheinlichkeit diejenigen Informationen über die Bauzeit der Kirche und die Melodie ihres Glockenspiels gegeben, die man heute im Kommentar zu seinem Roman nachlesen kann. Wir, die Leser, wissen nicht und sollen nicht .wissen', welche Melodie die Singuhr im Roman spielt. Wer will, hört die Papageno-Arie, oder „Befiehl du deine Wege", oder auch etwas ganz anderes, zum Beispiel „Prinz Eugen". „Man muß nicht alles sagen wollen, dadurch wird die Phantasie des Lesers in den Ruhestand gesetzt und dadurch wieder wird die Langeweile geboren", sagt Fontane in seinem Brief an Wilhelm Hertz vom 17. Juni 1866: Auf diese Offenheit für verschiedene Deutungen kommt es ihm ersichtlich an - und solche bewußt geschaffene Offenheit ist es, die den Roman von der um historische Objektivität und sachliche Genauigkeit bemühten Erzählkonzeption der Wanderungen grundsätzlich unterscheidet. Die Aufhellung der historischen Zusammenhänge, um die es Fontane im Roman zu tun ist, läßt sich nicht mit der bloßen Abschilderung der außerliterarischen Realität erreichen, ebensowenig jedoch mit der Darstellung gänzlich fiktionaler, imaginärer Räume ohne jeden Bezug zur historischen wie geographischen Wirklichkeit. Die Mischung des poetischen Rau-
25