INTERPRETATION / LITERATURGESCHICHTE
Walter Hettche, München
Berlin, die Mark und die Welt Zu einigen Orten in „Vor dem Sturm" *
In seinem literarischen Schaffen zeigt sich Fontane stets fasziniert von Orten, von Landschaften, Städten und Gebäuden. Die englischen und schottischen Reisefeuilletons geben davon ebenso Zeugnis wie die zahlreichen Briefe, die Fontane vor allem auf seinen frühen Reisen nach Schleswig-Holstein und Dänemark, aber auch später nach Frankreich, der Schweiz und Italien schreibt. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg schließlich werden die historischen Orte zum Hauptgegenstand, zum Anknüpfungspunkt des Berichtens und Erzählens: Aus der Schilderung der Herren- häuser-und Kirchen, der Dörfer und Schlösser der Mark entwickeln sich die historischen Darlegungen und Anekdoten; die Orte werden zu Zeugen und Bürgen der märkischen Geschichte. unsere Dorfkirchen stellen sich vielfach als die Trä
ger unserer ganzen Geschichte dar, und die Berührung der Jahrhunderte untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität." (I/41) Dieser Satz stammt indessen nicht, wie man vermuten könnte, aus den Wanderungen, sondern aus Vor dem Sturm. Es überrascht nicht, daß sich gerade im ersten Roman, der in enger zeitlicher Nachbarschaft zu den Wanderungen entsteht und zudem in den Gegenden spielt, mit denen sich auch die Wanderungen beschäftigen, eine besonders ausgeprägte Lokalszenerie entfaltet.
Am 30. November 1988 sind auf einer Auktion in Marburg ca. 50 Seiten Manuskript zu Vor dem Sturm versteigert und von einem unbekannt gebliebenen privaten Sammler erworben worden. In diesem Konvolut findet sich ein Oktavblatt aus einem Notizbuch Fontanes, das im Auktionskatalog auf die „50er Jahre" datiert wird. Auf diesem Blatt hat Fontane einen der frühesten Pläne - vielleicht den frühesten - zu einem Roman aus der Zeit der Befreiungskriege festgehalten. Es heißt dort - und ich zitiere nach dem Auktionskatalog der Firma Stargardt „Und zwar hätt es in der Priegnitz zu spielen: Wilsnack, Kyritz, Wittstock, Havelberg, Pritzwalk, Perleberg. / Es müßte ein Dorf sein, das mitteninne liegt." Eine ähnliche Formulierung begegnet uns im Notizbuch A 12 von 1862 (Fontane-Archiv, Potsdam). Fontane verwendet in dieser Notiz den Begriff der „Lokalität", und er verbindet ihn mit einem vielsagenden Attribut. Von „gemischter" Lokalität ist dort die Rede; Dieses .Mischen', das Verschmelzen der Charakteristika verschiedener in der außerliterarischen Wirklichkeit existierender Orte zu einem poetischen Ort ist kennzeichnend für den ersten Roman wie für viele der späteren erzählerischen Werke Fontanes.
Man hat aufgrund der tatsächlich existierenden Dörfer und Städtchen des Oderbruchs, die Fontane in Vor dem Sturm nennt - Lietzen, Hohen-Jesar, Zernikow, Man- schnow, Libbenichen, Reitwein usf. — die geographische Lage von Hohen-Vietz genau bestimmt. Im Kommentar der Aufbau-Ausgabe heißt es: „Hohen-Vietz liegt mithin am westlichen Rand des Oderbruchs zwischen Seelow und Reitwein, westlich vom Manschnower Vorwerk." (I/338) So verständlich dieses Bemühen um genaue Fixierung des wichtigsten Handlungsortes auch sein mag, ein wenig erinnert es doch an
24