SCHRIFTSTELLER DER GEGENWART ÜBER THEODOR FONTANE
Günter Görlich, Berlin
Warum immer wieder Fontane?
„Und lieber Pastor, noch einmal das eine. Morgen früh zieht das junge Paar in das alte Herrenhaus ein, meine Schwester und mein Schwager. Erinnern Sie sich bei der Gelegenheit unseres in den Weihnachtstagen geschlossenen Paktes: es ist nicht nötig, da ß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin."
So endet der Brief Melusinens an Pastor Lorenzen, und so endet der Roman „Der Stechlin".
Zu seinem letzten Roman schrieb Fontane: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; - das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht...." Doch was für ein umfassendes Lebens- und Gesellschaftsbild seiner Epoche vermittelt uns der Dichter und wie wird es sprachkünstlerisch gestaltet.
Von einem derartigen Abschluß eines Lebenswerkes vermag ein Autor nur zu träumen. Bei Fontane ist dieser jedoch im gesamten Romanwerk der letzten beiden Lebensjahrzehnte vorgezeichnet.
Lese ich den „Stechlin", und ich lese in ihm immer wieder, so beeindrucken mich die Gelassenheit und Weisheit der Weltbetrachtung. Mir scheint, dieses ruhige Ausbreiten von Gedanken und Meinungen durch seine unverwechselbaren Figuren schärft den Blick des Lesers für die Fragen der im Roman gestalteten Zeit.
Ich bemühe mich, Fontanes Denken und seine Gestaltungsweise zu begreifen. Seine Grundauffassungen von „Gegenwartsliteratur" kommen meinen Vorstellungen sehr nahe; denn die meisten seiner Romane stellen sich mir als Zeitromane dar. Fontane bekennt sich zum Detail, in dem sich ein sehr starkes Zeitgefühl für die Menschen seiner Umwelt ausdrückt. Das „Kleine" ist ihm wichtiger als das sogenannte „Große", und jedem, der seine Arbeiten gelesen hat, wird diese seine Stärke bewußt werden. Für mich sind einige von Fontanes „Zeitromanen" für alle Zeiten gültig geworden, und'besonders deshalb regt er mich an, über die eigene Arbeit nachzudenken. Und schließlich bereitet es ein eigenes Vergnügen, in seinen Briefen die Zeitläufe vor 100 Jahren nachzuvollziehen. Eigene Fragen und Probleme relativieren sich. Aus diesem und manch anderem Grund gilt für mich, immer wieder einmal zu Fontane zurückzukehren.
Günter Görlich; geb. am 6.1.1928 in Breslau (Wroclaw), Mitglied der Akademie der Künste; Vorsitzender des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR. Wichtige Veröffentlichungen u. a.: „Den Wolken ein Stück näher"; „Eine Anzeige in der Zeitung"; „Drei Wohnungen".
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