Gisela Heller, Kleinmachnow
Späte Liebe zu Fontane
Wie alle empfindsamen jungen Mädchen, so bangte auch ich um Effi und empörte mich über den seelenlosen Innstetten; später gehörte meine Sympathie der braven Lene, die ihren Garde-Offizier so herzinniglich und „unorthographisch" liebte; Melanie und vor allem Corinna waren mir nah. Nur fand ich, daß in all den Romanen zu viel geredet wurde, das hielt für mein damaliges Verständnis nur den Gang der Handlung auf. Jahre später, um einiges wissender und klüger, entdeckte ich gerade in den früher flüchtig gelesenen Passagen konzentrierten Zeitgeist, psychologischen und soziologischen Tiefgang.
Anfang der siebziger Jahre begann ich für den Hörfunk kulturhistorische Bilderbogen aus der Mark Brandenburg aufzublättern. Dabei stieß ich natürlich immer wieder auf den Wanderer Fontane. Mit wachsendem Respekt und Vergnügen verfolgte ich seine Spuren, erzählte, was Landschaft und Menschen inzwischen widerfuhr, machte dabei die beglückende Feststellung, daß es ungeahnt viele Fontane-Verehrer gibt, durchweg sympathische Leute, mit denen man sich auf Anruf verständigen kann.
Der ganze Mensch Fontane offenbarte sich mir erst, als ich seine Briefe las. Ich spürte eine Affinität, die mit den Jahren eher zu- statt abnimmt. Es ist wohl der Lebensbogen, den er durchmessen, der uns so berührt: schwärmerisch-blauäugiger Himmelsstürmer, der im März 1848 die Sturmglocken der Revolution läuten will, - aber die Kirche ist zugesperrt; der sich mit Pulver und Blei den Barrikadenkämpfern zugesellen will, - aber die aus dem Theaterfundus requirierte Flinte erweist sich als untauglich; mit seiner Feder streitet er solang es geht für seine Vorstellung von einer gerechteren Gesellschaftsordnung; bitter und schmerzhaft ist die Einsicht, daß er sich anpassen muß, um Frau und Kind nicht hungern zu lassen. Er begreift, daß die Sterne seiner Sturm- und Drangzeit unerreichbar sind, aber er hört nicht auf, diese Sterne als Orientierungspunkte zu behalten in den Irrungen-Wirrungen seines Erdenlebens. Sich-anpassen, ohne sein Gesicht zu verlieren und seinen Charakter zu verbiegen, das bleibt seine Aufgabe. Wie schwer ihm das oft gemacht wurde, geht nur aus den Briefen hervor.
Heiteres-Darüberstehen - ja, aber mit welchem Kraftaufwand!
Resignation - ja, aber sobald er die Talsohlen nervlichen Abattu-Seins durchschritten hat, rafft er sich immer wieder auf. Denn: ein anständiger Kerl läuft nicht davon, selbst wenn er seinen Posten, auf den er gestellt ist, als aussichtslos erkennt. Und überhaupt: wer sich einen Platz erworben, auf den er seiner Natur nach hingehört, der kann nicht unglücklich werden; und wenn er es darüber hinaus versteht - wo immer er auch marschiert - die Musik des Lebens zu hören - so ist er ein glücklicher Mensch.
Fontane hat es vorgelebt, und das macht ihn mir über alle seine literarischen Werke hinaus so lieb und wert. Er ist mein geistiger Vater. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, er ist mir zugewachsen.