REZENSIONEN
Rainer Kolk: Beschädigte Individualität. Untersuchungen zu den Romanen Theodor Fontanes. — Heidelberg: Carl Winter Verlag 1986. 152 S.
(Rez.: Paul Irving Anderson, Aalen)
Fontane als Sozialpsychiater
Längst hat die soziologische Interpretation aus Fontanes Romanen eine Fundgrube gemacht, immer raffinierter werden seine Kreaturen psychologisiert - wenn auch nicht streng nach Freud. Was geschieht jedoch, wenn ein Anhänger jener die Soziologie mit Psychoanalyse kombinierenden Richtung, die, sich die „kritische Theorie" nennt und deren Propheten Adorno, Habermas, Horkheimer, Lorenzer, Leithäuser, Lefebvre, usw., heißen, sich mit Fontane befaßt? Wie sieht das Fontane-Bild der Urenkel von Marx und Freud aus?
Zwischen den soziologisch arbeitenden Kritikern und den meisten werkimmanent verpflichteten Psychologen besteht seit gut zwanzig Jahren eine beachtliche Kluft. Während die Psychologen den Soziologen unschlüssiges Interpretieren vorwarfen, konterten diese mit dem Vorwurf der geschichtlichen Irrelevanz. Und während sie unter derartigen Vorwürfen ihr Vesperbrot verzehrten, blickte Fontane mit dem Ausdruck entrückter Geringschätzung von der Wand herunter. Je mehr wir seine psy- chostilistischen Raffinessen entblättern, desto mehr wird die Tiefe und der Ernst seines zeitgeschichtlichen Engagements offenbar; je mehr wir versuchen, ihn ideologisch zu bestimmen, desto mehr entgleitet er dem Zugriff sozialwissenschaftlicher Denkmuster. Darum müßte ein Ansatz, der die soziohistorisohe Aussagekraft nicht etwa im Objektiven und Ausdrücklichen, sondern gerade aus dem anscheinend Subjektiven und Angedeuteten herauszuarbeiten vermag, als vielversprechend betrachtet werden. Abgesehen von begrenzten Vorstößen in diese Richtung muß Rainer Kolks Bielefelder Dissertation als die erste konsequente Fontane-Arbeit nach der „kritischen Theorie" angesehen werden. Ihre Aufnahme ist jedoch bisher alles andere als freundlich ausgefallen. Dies liegt ohne Zweifel an einem leserfeindlichen und literaturfremden Stil, aber abgesehen von den folgenden, selbstredenden Zitaten soll es hiermit sein Bewenden haben.
Da die theoretischen Überlegungen Kolks Ansatz bestimmen, ist Beschädigte Individualität weder chronologisch, noch werktypisch, sondern nach theoretischen bzw. thematischen Bereichen folgerichtig gegliedert. Darum erfreut einen das Werkregister am Schluß, mit dessen Hilfe sich die verstreute literaturkritische Leistung zusammenfügen läßt. Doch schon die Überschrift wirkt befremdlich, gar ein wenig ungewollt komisch. Auf die kurze Einleitung folgen im 2. Teil 13 der trockensten Seiten über die „Kritische Theorie des Subjekts und Geschichte der Subjektivität". Dank den vielen Werkbeispielen wirken die 108 Seiten des 3. Teils, „Pathographie der Subjektivität; Fontanes Romane" wieder verdaulicher. Die nochmals überwiegend theoretischen letzten 12 Seiten von Teil 4, „Rationalisierung und Deformation der Lebenswelt" ziehen das Vorangegangene in einen übersichtlichen historischen Rahmen zusammen.
Der vorübergehende Eindruck, Fontanes Werk werde nur als Illustrationslager ausgebeutet, weicht bald dem eines kreativen Lesers, der seine Belegstellen originell und passend auswählt. War man sich dessen bewußt, z. B„ daß Fontane den Förster
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