Heft 
(1990) 49
Seite
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Opitz in Quitt mit der inzwischen zum Sinnbild desRadfahrertyps" gewordenen For­mel charakterisiert,nach oben hin kriecht er und nach unten hin tritt er und schuh­riegelt er"? (102) Öfters muß man in die Fußnote schauen, um festzustellen, ob ein Zi­tat Fontane oder einemkritischen Theoretiker" aus der Feder geflossen, ist. Gerade dieser Vorzug wird jedoch um den Preis erreicht, daß man dauernd mit anderen Autoritäten und neuen Begriffen konfrontiert wird. So wird jedoch die Sozialwissen­schaft der Interpretation dienstbar gemacht, nicht etwa umgekehrt.

Trotzdem weigert sich Kolk, von Interpretation zu sprechen, und besteht darauf, daß erAnalyse" und zwar im psychoanalytisch analogen Sinn betreibt; dennoch kann

die an Texten vorgenommene Analyse einer (...] psychischen Verfassung [. . .] nur hypothetischen Charakter und nicht die Konsequenz klinischer face to face-Diagnosen haben." (48)

Bei all der Selbstverständlichkeit, mit der Kolk auch die klinische Terminologie an­wendet, vergißt er diese Problematik an keiner Stelle - anders als so mancher Li­teraturpsychologe. Andererseits bietet die Textanalyse vor der Patientenbehandlung gerade den Vorteil, daß alles, was es über den Fall zu wissen gibt, schon schwarz auf weiß feststeht.

Als Beispiel dessen, was derartig strenge Textanalyse zu leisten vermag, sei die Analyse von Innstettens Einstellung zum Chinesenspuk angeführt;

Lorenzer verdeutlicht, daß die Einpassung in die soziale Realität von der Fi­gur in einem Maße geleistet ist, daß ihre Pathologien sich nunmehr in den Reaktionen des Ehepartners manifestieren [. ..) Die Bedeutung des Romans liegt darin, daß nicht der krankhafte Zustand dieses Individuums narrativ vor­gestellt wird, sondern im Gegenteil dessen bruchlose Adaption an die soziale Realität." (99)

Von diesem theoretischen Fundament ausgehend läßt sich Crampas' bekannte Formel vomAngstapparat aus Kalkül" dahingehend relativieren, daß Innstetten wieder menschlicher wirkt, zumal

die Interpretation des Chinesen durch Crampas nicht aufgrund ihrer objekti­ven Richtigkeit die Labilisierung Effis fördert und das Vertrauensverhältnis der Ehepartner erschüttert. Diese Wirkung resultiert bereits aus der Über­einstimmung mit der Situationsdefinition Effis, welche die angebotene Erklä­rung akzeptiert, weil das neurotische Symptom die bewußte Formulierung des tatsächlichen Konflikts verhindert. Zudem kompensiert Crampas' Darstellung dieses Defizit unter Beibehaltung des psychoökonomischen Gleichgewichts: Die von dem Chinesen ausgehende Angst ist nunmehr keine aus dem eigenen Inneren herrührende, sondern eine von außen herangetragene, von Innstetten zweckrational produzierte.

[...] Psychologistische Verengung der im Roman diskutierten Probleme [...] ist allerdings dann gegeben, wenn das ,Chinesenmotiv' nur als Manipulations­objekt Innstettens verstanden wird (...] Diese Argumentation unterstellt mei­nes Erachtens bei beiden Ehepartnern einen Grad von Bewußtsein, der ihnen [...) nicht zukommt. Indem die Diskussion sich auf die Strategie Innstettens konzentriert, verdeckt sie den Zusammenhang von subjektiver Entwicklung und relevanten Strukturen der sozialen Realität. [...]

Damit ist nicht gesagt, daß Innstetten die psychische Verfassung seiner Frau adäquat einschätzt (...] Gleichwohl wird im Verbund mit der Annahme vollständig rationalen Handelns die unterhalb der hierfür erforderlichen indi­viduellen Autonomie liegende Beschädigung der Persönlichkeit verdeckt." (90f.)

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