Auf solche Weise entdeckt Kolk durch konsequente, doch keineswegs erzwungene Anwendung der »kritischen Theorie" einleuchtende Wege zur Wahrheit der Fontane- schen Romane, die konventioneller Soziologie und Psychologie verschlossen bleiben müßten - dieser, weil die in den Romanen angebotenen psychischen Erklärungen die Beschränktheit der einzelnen Figuren nicht übersteigt; jener, weil den Charakteren das zur Ideologiebildung nötige Selbstbewußtsein und der Konfliktwille fehlt. Einerseits deckt Fontanes Psychologie einen wesentlich breiteren Bereich der Sozialisations- fragen als den der frühkindlichen, ödipalen Konflikte ab. Andererseits weist Kolk ausführlich nach, daß man Leithäusers Begriff des „Alltagsbewußtseins" anstelle der herkömmlichen Ideologie gewinnbringend anwenden kann.
Bezeichnend für die angesprochenen Sozialisationsprobleme seien die Untergruppen des langen, dritten Teils genannt :
„Dysfunktionalität von Subjektivität", „Unterdrückung der Sexualität", „Sozialisatori- sche Beschädigung subjektiver Bildungsprozesse", „Melusine", „Konfliktabwehr und -Vermeidung", „Angst", „Gesellschaftskonformität", „Ausbruchsversuche" und „Schutzräume". Die Abteilung „Melusine" könnte etwas konsequenter überschrieben werden, etwa als „Männerphantasien und weibliche Hysterie"; sie zeichnet die Entwicklung dieses bekannten Topos bei Fontane sehr differenziert nach.
In der Auswahl und Zitathäufigkeit der analysierten Romane verrät sich Stärke wie Schwäche jedes interpretativen Ansatzes. Am häufigsten werden Effi Briest, Unwiederbringlich und Irrungen, Wirrungen von Kolk angeführt; auch Cecile, Stine und Graf Petöfy werden eingehend behandelt; zwar wird gegen Ende dem Stechlin viel Platz eingeräumt, jedoch ist er das einzige Werk, bei dem Kolk wenig Originelles einfällt, und bei dem er die Urteile anderer Interpreten unangefochten gelten läßt; effektiv zeigt sich die Methode an Grete Minde, Ellernklipp, L'Adultera, Quitt und Unterm Birnbaum. Bis auf eine einzige Ausnahme wird Vor dem Sturm nicht erwähnt; die Autobiographien überhaupt nicht. Positiv, aber kurz wird der Roman Die Poggenpuhls erwähnt; entschieden zu kurz kommt Frau Jenny Treibel. Den re- signativen, frustrationsbedingten und auch depressiven Figuren und Situationen wird Kolks Ansatz gerecht; entschieden weniger dagegen den heiteren-und humorvollen, „normalen" und möglicherweise vorbildlichen, also den nichtbeschädigten. Daran mag die theoretische Tüchtigkeit einen Teil der Schuld tragen, denn Kolk lehnt Rückschlüsse auf den Autor als „Mißverständnis der Reichweite psychoanalytischer Kategorien" (21) entschieden ab, es sei denn in einem „abgehobenen zweiten Schritt" erst nach „einer Analyse der ästhetischen Struktur." Genausowenig ist er bereit, auf die Dynamik zwischen Autor und Leser einzugehen, und hält „Vorsicht in der Formulierung wirkungsästhetischer, auf Leserreaktionen sich erstreckender Thesen für angezeigt." (22)
Es überrascht also nicht, daß Kolk sich eingehend und erfolgeich mit der häufigsten Todesursache Fontanescher Protagonisten beschäftigt, also dem Selbstmord, den er natürlich „Suizid" nennt. Von den drei unterschiedenen Typen „pathogener Dynamik" leuchtet Ceciles „Schuldgefühl und Depression" ohne weiteres ein; bei Christine Holks „Objektverlust und Depression" muß über die klinische Erfahrung weiter ausgeholt werden; am ergiebigsten aber erweist sich die Heranziehung des Begriffs der narzißtischen Angstreaktion, um die Selbstmorde des Grafen Petöfy, Waldemars von Haldem und Schachs von Wuthenow zu motivieren.
„Tatsächlich resultiert die Reaktion des Grafen Petöfy aus. der Unveränder- barkeit seiner narzißtischen Objektbeziehung mit den Neigungen Franziskas." (56)
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