„Die (...] mühsam sich stabilisierende Identität des jungen Grafen zerbricht mit dem Rückzug des Objekts seiner narzißtischen Besetzung. [...] Der Abbruch der Beziehung [...] führt zu einem Überwiegen narzißtischer Angst als Folge der lebensgeschichtlich frühen Erschwerung der Identitätsbildung. (56f.) Nicht die kontrollierte Verfügung über diverse Handlungsstrategien kennzeichnet Schachs Individualität, sondern ihre vollständige Ausrichtung (...] auf von außen an ihn herangetragene Anforderungen (...). Der Selbstmord als konventionelle Wiederherstellung der durch die Heirat kompromittierten ,Ehre' wird subjektiv als Stabilisator der narzißtischen Identität akzeptiert." (58f.)
Trotz und wegen der in der Germanistik ungewohnten Denk- und Schreibweise erweist sich gerade hier die Stärke des Kolkschen Ansatzes; denn die klinisch geprüfte Erfahrung macht aus dem, was bei Fontane immer „dunkle Ahnungen" und Andeutungen bleiben, eine nachvollziehbare Logik, die es möglich macht, Fontanes intuitive Wahrheit in abstrakte Formulierungen zu übersetzen. Als Interpret hat man hier die Mittel, über die begrenzten Perspektiven der Figuren wie auch des Erzählers hinauszugelangen und für die Bewußtseinsebene des Dichters Fontane angemessenen Ausdruck zu finden. Ausgerechnet die Fremdheit des Ansatzes bringt uns Fontanes Weltanschauung oft näher als Interpretationen, die brav den Imperativen der Werkimmanenz folgen.
Was Kolks Darstellung betrifft, so wirken seinerseits die wiederholten Hinweise auf „kapitalistische Produktionsweisen" wie soziologiebrave Platitüden, zumal an mehr als einer Stelle festgestellt wird, daß Arbeit, Produktion und Besitzverhältnisse in Fontanes Romanen geradezu „marginalisiert" (124) werden, d. h., nur am Rande Vorkommen. Daher ist es recht nützlich, daß parallel dazu Lefebvres Begriff „kumulativer" Produktionsprozesse im Gegensatz zum unmittelbaren Nützlichkeitsprinzip als Alternativbegriff benutzt wird.
Der m. E. geglückteste Teil von Kolks Arbeit ist der vierte und letzte, worin die schon auf der ersten Seite erwähnte Intention, jenes Wissen zu beschreiben, „das die Romane für eine Geschichte der menschlichen Subjektivität bereithalten" endlich eingelöst wird. Es wäre sogar ratsam, Teil 4 gleich nach der Einleitung zu lesen, da er die ganze Fragestellung in den passenden, geistesgeschichtlichen Rahmen setzt. Hier geht es um die lange und schmerzvolle Geburt der Psychoanalyse über Jahrzehnte hinweg und um die Rolle, die der Realismus des 19. Jahrhunderts dabei spielte. Wenn man erst nachvollzieht, daß die damalige Psychiatrie den Menschen immer nur als Symptomträger betrachtete, dessen persönliche Entwicklungsgeschichte den Mediziner nicht interessieren konnte, dann begreift man auch besser, für welche Bedürfnisse Fontane und seine Dichterkollegen „zuständig" waren, ja es immer noch sein können. Auf diese Weise wird es möglich, Fontanes Spätwerk nicht nur litera- tur-, sondern geistesgeschichtlich zu bewerten:
„Die Analysen der Romane Fontanes berechtigen zu der Feststellung, daß das in ihnen auffindbare Wissen um die Beschaffenheit subjektiver Handlungsund Wahrnehmungsprozesse Einwände gegen die entsprechenden Analysen der institutionalisierten Wissenschaft der Zeit enthält, (...)
Das psychoanalytische Konzept von der Vergleichbarkeit .normaler' und .pathologischer' psychischer Vorgänge sowie ihrer potentiellen gegenseitigen Durchdringung ist bei Fontane in den zahlreichen Hinweisen auf die gesellschaftliche Produktion invidueller Defekte sowie deren Verbreitung und diskursive Festlegung präsent." (134, 137)
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