Heft 
(2023) 115
Seite
16
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16 Fontane Blätter 115 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Die Berlinerin Wolff ist einige Monate nach seiner Kritik abermals auf Frau Jenny Treibel zurückgekommen, speziell auf das ja auch im Roman anklingende Thema ›Wesen und Naturell der Berlinerin‹. Die Frage, was die Berlinerin auszeich­net, was sie etwa von der Wienerin oder Pariserin unterscheidet, zieht sich durch die gesamte lokalspezifische, sittengeschichtliche, feuilletonistische Literatur des 19. Jahrhunderts. Mit der Etablierung Berlins zur Reichs­hauptstadt gewinnt sie deutlich an Gewicht. Nicht nur durch die populären Frau Wilhelmine Buchholz-Romane von Julius Stinde der 1880er-Jahre war ›die Berlinerin‹ zu einem aparten Thema der Literatur geworden. 1897 er­schien dazu ein Sammelband unter dem Titel Die Berlinerin, zu dem mehrere bekannte Berliner Autoren kleine Erzählungen, Aufsätze, Skizzen beisteuer­ten. Behandelt werden nach einer Einleitung von Karl Frenzel über die Ber­linerin u. a. Die Ballmutter(Julius Stettenheim ), Die Schriftstellerin(Fritz Mauthner ), Die Aristokratin(Fedor von Zobeltitz ), Die Arbeiterin(Max ­Kretzer ), Berliner Künstlerinnen(Ludwig Pietsch ), Die Marktfrau ­(Johannes Trojan ), Die Schauspielerin(Max Grube ), Die musterhafte Hausfrau(Ernst von Wolzogen ), ja sogar Die Hochstaplerin(Heinz Tovote ). 34 Theodor Fonta­ ne und Theodor Wolff sind zwar nicht unter den Autoren, aber Wolff hatte dazu schon vier Jahre zuvor im Feuilleton des Berliner Tageblatts einen Bei­trag geliefert: Zur Naturgeschichte der Berlinerin. Randbemerkungen. 35 Bei seinem Versuch, eine Phänomenologie der Berlinerin zu entwickeln, wirkt die Lektüre von Frau Jenny Treibel deutlich nach und Theodor Fontane wird zuletzt als unübertroffener Experte in Sachen ›Berlinerin‹ angeführt. Wolff schreibt: Die Berlinerin rechnet. Wenn sie mit ihrer Nähmaschine hinter dem Fenster sitzt, wo die braungoldenen Levko[j]en duften, berechnet sie ganz praktisch die Zukunft. Sie weiß, daß man nicht immer sentimental sein darf. [] Bisweilen erlebt sie auch eine wirkliche, wundervolle, echte und rechte Liebe, so schön, daß sichs gar nicht schildern läßt. Sie macht die Augen zu, rechnet nicht mehr, liebt und läßt sich lieben. Aber sie weiß am rech­ten Tage den Strich darunter zu machen, ehe es zu spät ist. Man muß an die Zukunft denken, und resignirt, mit einer kleinen Thräne im Auge, sagt sie dem Jugendglück Lebewohl. Mit einem ganz gesunden Egois­mus denkt sie dann nur an die gute Versorgung. Niemand hat den Typ der Berlinerin so fein begriffen wie Theodor Fon­ tane , der diese Frau Jenny Treibel schuf, diese alte praktische, ehrgeizige Berlinerin, die sich mit dem bischen Schaumgoldsentimentalität schmückt und glaubt, eine echte poetische Goldsonne zu sein. Man den­ke sich Frau Jenny Treibel verjüngt in den Jahren des Schwelgens unter