Allerlei Glück Wege 91 hinsichtlich ihrer Wahl von Beruf und Liebesverhältnis zu beraten und zu beeinflussen. Karl soll sich zwischen einem Leben als Studiosus oder als Weltreisender und Naturforscher entscheiden; Axel hat die Wahl zwischen einer mittellosen Cousine und einer verwitweten Adligen, mit der er ein uneheliches Verhältnis hat. Ob letztere Beziehung unmoralisch ist, bildet den Gegenstand mehrerer Diskussionen innerhalb der Familie. Die Broses beraten beide Neffen in beruflichen und moralischen Lebensfragen. Eine »entscheidende Unterredung« zwischen Onkel und Neffe Karl(?) plante Fontane wie folgt: Onkel Wilhelm sagt: es giebt allerlei Glück, und es giebt sogar allerlei Moral. Dies steht im nächsten Zusammenhang. Denn an unserem sittlichen Zustand ⌐ unsrer Moral hängt unser Frieden und an unsrem Frieden hängt unser Glück. Aber unsre Moral ist so mannigfach wie unser Glück. Es giebt nicht Formeln dafür,| die überall hin passen; für den einen paßt dies, für den andern das.(F I, 116) 18 Worauf es hier ankommen wird, ist der Punkt der Passgenauigkeit, der bei Schopenhauer ebenfalls vorkommt(siehe oben). Im Fragment folgt eine Diskussion der beiden darüber, ob christliche Moralvorstellungen dieser Sicht im Wege stehen könnten; plädiert wird am Ende für eine persönliche, an inneren Kriterien orientierte und gegen eine von der Öffentlichkeit diktierte Moral. Dass es nicht nur eine, sondern multiple Moralen und somit verschiedene Glücksformen gibt, wird mehrfach betont; dabei wird moralischen Normen keineswegs eine Absage erteilt, aber sie werden im Hinblick auf die individuelle Natur relativiert und subjektiviert. Einige Beispiele: In einer anderen Version bekennt der Neffe(vermutlich Karl):»Seine Befriedigung innerhalb des Erlaubten und doch des Zulässigen zu finden, auf das unsre Natur hinweist, das ist Glück. Der geringste Fehltritt dabei, oder auch nur Irrthum und das Glück ist hin.«(F I, 117) 19 Dem fügt Fontane den Vermerk hinzu, Karl berufe sich in diesem Zusammenhang auf die Jesuiten und das Lehrwerk eines Moraltheologen. 20 Und in einer weiteren Version sinniert Heinrich Brose in Richtung des»jungen Helden«: Es gibt hundert und tausend Formen des Glücks.[…] Wobei[…] das ruhige Gewissen nicht ein so delikater Punkt ist, wie viele meinen[…].[…] Sünden aber des Blutes und der Natur, die| gegen das Moralgesetz verstoßen aber niemanden schädigen, denen alles von Verrath, Verführung und schnöder Selbstsucht fehlt, solche Sünden sind»lässige Sünden«, wie die Katholiken sagen[…]. Ja, es könn kann unser Glück in ihnen stecken. Aber die Grenzlinie liegt hier fein[…].(F I, 118) Der Kontext legt nahe, dass es in diesem Gespräch um das ›sündhafte‹ Liebesleben von Axel geht. Der Sünde wird Glückspotenzial attestiert – letztlich ist dies das Großthema sämtlicher Ehebruchromane, in denen die Figuren auf der Suche nach dem Glück um Sünden nicht umhinkommen und daran zerbrechen.
Heft
(2023) 115
Seite
91
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