96 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung zismus sei dem allzu rationalen Protestantismus 39 der jüngeren Zeit insofern überlegen, als nur er die ›eigentlichen‹, seiner Ansicht nach genuin christlichen willensverneinenden Praktiken wie Zölibat, Askese, Resignation und Entsagung vom Weltlichen lehre. Die Übereinstimmungen in diesem Punkt mit den Predigerfiguren im Fragment – wie auch mit zahlreichen Gläubigen und sündenbelasteten Büßer:innen, insbesondere Katholik:innen in den Romanen – sind besonders evident: Der Protestantismus hat, indem er die Askese und deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibats, eliminierte eigentlich schon den innersten Kern des Christentums aufgegeben[…] Das Christentum ist die Lehre von der tiefen Verschuldung des Menschengeschlechts durch das Daseyn selbst und dem Drange des Herzens nach Erlösung daraus. 40 Entsprechend hegt Schopenhauer eine besondere Vorliebe für tugendhafte »Weltüberwinder«, 41 Büßer, Mystiker, Heilige, Nonnen, 42 sowie für so genannte»natürliche Mönche« in verschiedenen Weltreligionen, 43 insofern diese die Entsagung vom triebhaften Willen praktisch einüben und dabei dem Ideal zufriedener, halbwegs glücklicher Willenlosigkeit näherkommen. Selbst zu der von Fontane im Fragment vorgesehenen Figur eines Heiligen-Malers(siehe oben, erwähnt im Abschnitt zu Suffragan) findet sich ein Äquivalent in Schopenhauers Ausführungen zum Katholizismus, genauer hier dann zu katholischer Ästhetik. Der wahre Gegenstand eines Heiligenportraits, meint der Philosoph, sei im Grunde das Quietiv – das Verstummen, die Ruhe – des Willens im unbeirrbaren Glauben. Es handele sich um künstlerische Darstellungen der inneren Einsicht in die Notwendigkeit der Willensverneinung, die sich auf den Gesichtern der Heiligen auf Gemälden spiegele: In ihren Mienen, besonders den Augen, sehen wir den Ausdruck, den Widerschein, der vollkommensten Erkenntniß, derjenigen nämlich, welche nicht auf einzelne Dinge gerichtet ist, sondern die Ideen[…], welche Erkenntnis in ihnen auf den Willen zurückwirkend, nicht, wie jene andere, Motive für denselben liefert, sondern im Gegentheil ein quietiv alles Wollens geworden ist, aus welchem die vollkommene Resignation, die der innerste Geist des Christenthums wie der Indischen Weisheit ist, das Aufgeben allen Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung des Willens und mit ihm des ganzen Wesens dieser Welt, also die Erlösung, hervorgegangen ist. 44 Vor diesem Hintergrund lässt sich erahnen, wie man sich das von Fontane avisierte religiöse wie auch das psychologische Profil der diversen Predigerfiguren, Mönche und Katholik:innen in den Fragmenten vorzustellen hat. Die vom Fragment bestätigte Willensphilosophie als religionspsychologischer Kontext für das Themenfeld Katholizismus lädt zudem zu einem erweiterten Verständnis der verschiedenen gläubigen Figuren in den veröffentlichten Werken ein; man denke an Prediger und Eremiten mit aske
Heft
(2023) 115
Seite
96
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