Heft 
(2023) 115
Seite
106
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106 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung teilte die Erfahrung vieler seiner Zeitgenossen, dass die fortschreitende Moderne, sei sie nur ›gefühlt‹ oder ganz konkret ›greifbar‹, sowohl heraus­fordert als auch unaufhebbare Widersprüche aufbietet, ja zumutet und so, bei der Bewertung zahlreicher Phänomene, zu einer Entzweiung führen kann. Es handelt sich um»Erfahrungen des Vaszilierens zwischen Gegen­sätzen und fundamentalen Differenzen des Erlebens, Erfahrens und Han­delns[]«, und zwar forciert»in Zeiten, in denen sich ökonomische, politi­sche, soziale und kulturelle Fundamentalismen lautstark zu Worte melden [].« 6 Fontanes Schreiben lässt sich in dieser Hinsicht diskurs- und litera­turgeschichtlich»als[sowohl] produktions-[als] auch rezeptionsästheti­sches Phänomen« in den Blick nehmen. 7 Insoweit es Fontane gelungen ist, Erfahrungen zu reflektieren und pro­duktiv zu machen, sollte allerdings von durchschauter Ambivalenz gespro­chen werden. Damit ist ausdrücklich nicht gemeint, dass Fontane(nur) sei­ne ›eigenen Ambivalenzen‹ durchschaut habe. Grundsätzlich lassen sich drei Typen auseinanderhalten: Ambivalenz als a) eine vom Individuum selbst nicht durchschaute, deshalb nicht reflek­tierte Einstellung oder Haltung(was folgt daraus für die Verantwor­tung?), die durch Therapie bewältigt werden kann, b) ein soziologisch beschreibbares, kollektives Dispositiv im Prozess der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, hier verbunden mit der Frage, in welcher Form eine individuelle Realisierung erfolgt, c) das selbstbewusst konzipierte, von Skepsis getragene Literaturmo­dell eines Autors zur ästhetischen Verarbeitung und Abbildung sub­jektiv erfahrener Komplexität. Fontane hat, so die These dieses Aufsatzes, b) sowohl registriert als auch verstanden und in c) thematisiert, d.h. ausgestaltet und sich damit selbst positioniert. Damit kann und soll nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass auch a) hin und wieder, aber eben nicht durchgreifend, bei Fontane und in seinem Werk identifiziert werden könnte. Es wird dennoch nicht da­von ausgegangen, dass Fontane ohne Durchblick ›schwankende Stimmun­gen‹ erlitten habe, die er sodann ›genial‹, aber bewusstlos, literarisch nach­geschaffen und in seinen Werken kompositionell verankert hätte. Eine Auseinandersetzung mit Fontanes nachgelassenen Fragmenten legt das Gegenteil nahe. Es sind gerade solche Phänomene oder Ereignisse der rea­len Welt, die Fontane selbst als problematisch auffasst und überdies zu ei­ner Entzweiung seiner Haltung, gut und schlecht gleichermaßen, führen, die der Autor im Medium der Erzählung am besten zeigen konnte und zu verarbeiten verstand. Die Möglichkeitsräume der fingierten Welt sind aller­dings keine Spiegelwelten des immer bloß selbst Erlebten; sie erlauben je­doch Spielräume der Aushandlung und erweitern Grenzen von Darstellung und Argumentation, die beim Schreiben eines faktualen Textes gelten wür­den. So würde sich außerdem erklären lassen, dass Fontane davon abgese-