Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz Rottmann 109 und Juden Symbole für ›die Moderne‹, wobei er ›Ostjuden‹ dezidiert anders, nämlich in toto negativ, eingeschätzt hat. 12 Von seltenen Einsprüchen abgesehen, wird die skizzierte ›einerseits/ andererseits‹-Unterscheidung bis heute repetiert und dabei geradezu formalisiert. Zwischen dem ›angenehmen‹ ästhetischen Kalkül Fontanes und dem unangenehmen politischen Versagens Fontanes wird eine Spaltung inszeniert, die dem konventionellen Autorbild entgegenkommt. Sehr viel stichhaltiger ist demgegenüber die Feststellung, dass die zahlreichen Meinungsäußerungen des Autors, jeweils für sich genommen, keine durchgreifenden, unreflektiert oder affektiv artikulierten Widersprüche enthalten. Insoweit Fontane ›Ja‹ und ›Nein‹ gegeneinander abwägt und ›teils teils‹ als angemessene Beschreibung anerkennt, verhandelt er den Sachverhalt und ringt zumindest um eine artikulationsfähige Position. Auch der Umstand, dass er mitunter Fragen offenlässt bzw. keine Antworten oder Lösungen findet, spricht nicht dafür, dass er in Ambivalenz verfangen sein musste. Gudrun Loster-Schneider spricht stattdessen zutreffend von»Meinungskonflikt«, »Zielkonflikt« oder widerwilliger Akzeptanz. 13 Einer Untersuchung wert sind in dieser Hinsicht jene Kriterien, Maßstäbe und Grundeinstellungen, die Fontane in einschlägigen Texten nuanciert zugrunde gelegt hat, und die zu diesem Zweck allerdings erst erfunden und sodann, textuell, aktiviert werden mussten. In Fontanes sehr kurzer Skizze Die Juden in unserer Gesellschaft von 1892/93 zeigt sich das Ringen des Schreibers sehr deutlich, überhaupt angemessene Kriterien zu gewinnen, anhand derer ›die Juden‹ und ›unser[e] Gesellschaft‹ jeweils für sich genommen und gegeneinander beschrieben werden können. So wird der Standpunkt entwickelt, im»Landleben« sei das»Germanische« noch ungestört erlebbar, auch deshalb, weil das»Jüdische da förtfortfällt«(F I, 422). Die Skizze legt den Schluss nahe, dass das ›Jüdische‹ des»Stadtleben[s]« durch die Nennung der»Berühmtheiten überall« dort gezeigt werden könnte. Merkmal des jüdischen Stadtbürgertums sei ihre Eigenschaft, »Träger feiner Bildung und Sitte«(F I, 422) zu sein. Solche Feststellungen oder Meinungsäußerungen werden regelmäßig zitiert, um zu betonen, Fontane habe letztlich eine positive Einschätzung ›der Juden‹ in ›unserer Gesellschaft‹ vorgenommen. Das Interpretationsproblem besteht darin, dass eine solche Deutung plausibilisieren müsste, die der Skizze zugrundeliegende ›Werteordnung‹ sei so ausgestaltet, dass das Urteil»Träger feiner Bildung und Sitte« in diesem spezifischen Kontext positiv konnotiert ist. Gleiches gilt für den Schlusssatz in Fontanes wohl bekanntestem, wenn auch nur fragmentarisch überlieferten Essayentwurf zu diesem Thema: Adel und Judenthum in der Berliner Gesellschaft(1878). Der letzte Satz im Fragment lautet:»Der Staat mag dadurch verloren haben, die Welt hat gewonnen.«(F I, 423). Welcher Entität aber gilt die Sympathie des Autors? Dem Staat – oder der Welt?
Heft  
(2023) 115
Seite
109
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