Heft 
(2023) 115
Seite
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112 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung und Judenthum bereits einige Jahre zuvor, 1878, als Faktum konstatiert:»Sie [die Juden, M.R.] herrschen nun souverän. Es giebt in Berlin 280 Banquiers. Davon sind ¾ Juden.«(F I, 422) Diese 280 Bankiers hätten, so Fontane, den Adel der»glänzendsten alten Zeit« abgelöst, überdies sei diese Gruppe noch größer und damit einflussreicher als die Aristokratie ehedem. Fontane inte­ressierte sich 1878 für die Frage, wie dieser Wechsel»auf die Gesammt-Er­scheinung der Gesellschaft gewirkt« habe(F I, 422). Die Binnenlogik von Welterklärungsmustern, die sich nicht nur neben­bei antisemitischer Stereotype bedienen, bildet ein Zentrum des Novellen­fragments. Durchaus überzeugend entworfen, führt Fontane vor, in welchen Situationen judenfeindliche Muster auftreten können. Der Baronin eignet, anders als dem Baron, eine zutiefst ambivalente Haltung gegenüber Phäno­menen, die sich dem modernespezifischen Wandel zuordnen lassen. In die­ser Ambivalenz steckt jedoch auch Entschiedenheit, denn in ihrer Haltung gegenüber der»Judenwelt« denkt die Baronin auf bittere Weise konsequent ohne zu schwanken. Verzichtet hat Fontane allerdings darauf, dem Erzäh­ler, oder zumindest einer glaubwürdigen Nebenfigur, Widerworte, eine »Abneigung«, eine alternative Meinung, in den Mund zu legen. Wird die Binnenlogik dieser Welterklärungsmuster, gerade weil sich darin Hass auf eine vermeintlich geschlossene»Judenwelt« in Vergangenheit und Gegen­wart Bahn bricht, zumindest als defizitär in Zweifel gezogen? Im Entwurfs­stadium der Niederschrift dieser Novelle erfährt die Baronin keine Kritik. Ob ein Widerspruch geplant gewesen sein könnte, lässt sich nach Maß­gabe des Fragments folglich nicht entscheiden. Andere, deutliche mildere Varianten typischer Vorurteile und Feinbilder, also etwa Amerikanismus, Liberalismus und Kosmopolitismus, werden demgegenüber von sympa­thisch gezeichneten Vertretern dieser»Vorstellungen«, so dem»vornehme[n] liberale[n] Adeligen« Bennigsen und dem»demokratisch-fortschrittliche[n] Justiz-Commissar«, zumindest nonchalant in Zweifel gezogen, vermögen sie die Baronin auch nicht zu überzeugen:»Nun schildert er[d.i. Bennigsen, M.R.]: Pyramiden, Griechenland, trip round the globe , Paris, alle Sprachen, Literaturen, etc .«»›Auch das sind äußerliche Dinge‹«, repliziert die Baronin (F I, 213). Die Borniertheit der Baronin, die über ihren engen Horizont hin­aus wenig kennt und das Wenige zum Ausgangspunkt apodiktischer Urteile macht, wird gerade so unübersehbar. Ein Korrespondenzverhältnis zu Fon­tanes Ausführungen in Adel und Judenthum wird an diesem Punkt, insoweit eine Kritik am Zustand der Aristokratie vorgetragen wird, sehr deutlich. Denn der Adel, so heißt es in den Aufzeichnungen aus 1878, sei »[] zu binnenländisch=beschränkt, zu unkosmopolitisch und zu unver­traut mit dem was allein eine feinre Form schafft: mit Wissenschaft und Kunst. Gelesen hatte man wenig und gesehen nichts. Man war exklusiv, immer unter sich, der Landpastor der geladen wurde oder der Professor, der die ›Junkers‹ in Pension hatte, standen in einem unfreien oder genir-