114 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Einfluß«)»keinen Werth« hätten, doch soll dieses Sprechen und Relativieren nach dem Willen des Autors keine Glaubwürdigkeit erzeugen:»so kommt das Eselsohr seiner[des Storchen, M.R.] krassen Selbstsucht, seiner Eitelkeit, seines Familiendünkels hervor[…].«(F I, 198) 21 An diesem Punkt also legt der Autor Wert darauf, dass die Haltungen seiner Figuren zweifelhaft erscheinen müssen. Die Störchin meint dagegen, ganz und gar unzweideutig:»Ich will die Herrschaft von Thron und Kirche und Klassen-Gliederung an Stelle dieses modischen Unsinns von der Egalité.«(F I, 204) Bei der Konzeption von Haltungsmerkmalen beider Figuren notierte sich Fontane zusätzlich die folgende Eigenschaft, die beide tragen müssten(ihre Realisation haben wir schon festgestellt):» Außerdem muß ihr Anti=Jüdisches Element stark betont werden, sowohl hier wie in der Folge[…].«(F I, 422) Damit sind alle wesentlichen Mentalitäten und sozialen Ausgangspunkte versammelt, die der Verfasser – noch nicht entschieden, wer Hauptfigur werden sollte, ›Storch‹ oder ›Störchin‹ – benötigte, um eine konkrete Stimmungslage zu gestalten. Insoweit die Konsequenzen des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels verdrängt werden, ruht die Hoffnung auf einem konservativen Richtungswechsel in der Politik: Würde sich nur endlich»der Liberalismus[als] Spielerei in Preußen« erweisen, meint die Baronin(F I, 180). 22 Aus exakt dieser Konstellation wird der zentrale Konflikt der Novelle abgeleitet: Die Katastrophe leitet sich nun so ein. Es geht finanziell immer schlechter mit Storch, Fr. W. IV ist gestorben oder doch zurück[…]getreten und die Tage der Regentschaft sind angebrochen und in dieser Zeit verlobt sich der Sohn mit einer Jüdin, was sie zwar für ein Glück ansehen muß, aber daß sie’s als solches in ihrem Herzen ansehen muß, während sie sich vor der Welt und in gewissem Sinne auch vor sich selbst aufs äußerste dagegen stemmt, – das ist ihr eben ein ungeheures crêve coeur und daran stirbt sie. Sie stirbt an gedemüthigtem| Hochmuth.(F I, 201) Johann Sigismund verlobt sich mit einer reichen Jüdin. Die Wirkung davon auf den Alten. Er klagt darüber bitter zu den beiden Freunden; zu seiner Frau drückt er seine Freude darüber aus. Die Taufe hat den Unterschied der Religionen aufgehoben; sollen wir mit Petrus grollen, weil er ein Jude war. Die Rassenfrage? Im Vertrauen, es giebt keine bessere Rasse.(Dies erst nehmen, dann die Glaubensfrage.) Vor allem die Besitz=, die Macht=, die Ansehens=Frage.(F I, 199) Die in beiden Entwürfen entfalteten Perspektiven machen deutlich, dass nicht die ökonomische Problemlage der Familie Storch die ›eigentliche‹ Katastrophe ausmacht, sondern vielmehr der von beiden Störchen als Dilemma aufgefasste Umstand, nunmehr auf ›jüdisches Geld‹ angewiesen zu sein. So scheint weniger der»Hereinbruch des Bankrutts« massiv zu stören, sondern der Hereinbruch der»Macht dieser Judenwelt« zu verstören. Im Zentrum ihres Ringens steht die Verteidigung einer Werteordnung und Weltanschauung, die die Partizipation des jüdischen Bürgertums nicht erträgt
Heft  
(2023) 115
Seite
114
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