Heft 
(2023) 115
Seite
116
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116 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Staat«, weil sie»dessen Schlachten[] nicht geschlagen« sowie»dessen Ge­setze[] nicht geschaffen« hätten. Ein publizierter und zumal nicht-fiktio­naler Text würde an dieser Stelle zu Rückfragen animieren: Welche Schlach­ten sind gemeint? Fontane hat selbstverständlich gewusst, dass ›deutsche Staatsbürger jüdischer Konfession‹ am Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 teilgenommen haben. Und welche Gesetze werden hier ange­sprochen? Fontane wird auch nicht entgangen sein, dass es einige, wenn auch nicht sehr viele, jüdische Politiker und Parlamentsabgeordnete gege­ben hat. Sind also eher nicht-kodifizierte ›Sittengesetze‹ einerseits, und die Varusschlacht andererseits gemeint? Diese Fragen lassen sich nicht beant­worten. Der Entwurf bleibt, als Fragment, offen. Dezidiert antisemitische Vorurteile, wie sie Fontane der Baronin zugeordnet hat, finden sich in die­sem, wohl auf eine Selbstverständigung abzielenden Fragment, allerdings nicht. Vielmehr scheint Fontane durch seine Beobachtungen Zweifel darü­ber ausdrücken zu wollen, dass die unübersehbar erfolgreichen jüdischen Bürger aufgrund dieser behaupteten ›nationalen Geschichtslosigkeit‹ an die Funktionsstelle des Adels treten könnten. Fontane handelt von ideellen Werten wie der»Würde« aus dem»Gefühl[,] mit der Geschichte des Landes verwachsen zu sein«, oder dem»Festsein in Prinzipien«, das»Trägern be­rühmter Namen« eigne(F I, 423). Die Storchs entsprechen den kritischen Befunden, wie sie Fontane in Adel und Judenthum versammelt. Ein Urteil über Fontanes eigene Position ist an dieser Stelle unentbehr­lich. Seine Ausführungen in Adel und Judenthum sind nicht durch Ambiva­lenzen gekennzeichnet, und es fällt darüber hinaus schwer, die in der ein­schlägigen Forschung vielfach konstatierte ›positive Haltung‹ zum Judentum seiner Zeit zu bestätigen. Vielmehr scheint er nach Anhaltspunkten zu su­chen, die sich gegen den Aufstieg jüdischer Bürger in staatstragende Funk­tionen anführen lassen. Hier lässt sich ein Schema identifizieren, dass der Etablierung einer ›gläsernen Decke‹ entspricht, weil die unübersehbaren Verdienste jüdischer Bürgerinnen und Bürger nie ausreichen(können sol­len), einen bedeutenden Beitrag zum Staatswesen zu leisten. Wie der Novelle, so liegt auch dem Essayversuch eine sentimentale Wert­schätzung des alten und degenerierten, aber dennoch Werte und Tradition verkörpernden Adels zugrunde. Das etablierte Wertesystem der Adelsfami­lie Storch kollidiert dementsprechend empfindlich mit einer Realität, die der Baron und die Baronin, gerade weil sie so greifbar ist, sich nämlich in Zah­len und Statistiken niederschlägt, nicht vollständig verdrängen können. Gelingt die Hochzeit des Sohnes Dagobert/Johann Sigismund mit einer ›guten Partie‹, einer Jüdin, dann»[beginnt][d]as alte Leben[] wieder« (F I, 197), dann erscheint das ›alte System‹ gerettet. Fragilität als Merkmal dieser alten, immer wieder nur notdürftig geflickten Ordnung, die mit der Kritik Fontanes am Adel korrespondiert, wird allerdings auch auf das Ju­dentum und seine Verknüpfung mit modernespezifischen Phänomenen