Heft 
(2023) 115
Seite
119
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 119 Die 48 er Zeit, in der er grade| das Gut übernahm und die nun folgende Reactions=Periode war entscheidend für ihn. Er wurde christlich-con­servativ, und faselte beständig vom Christlich=Germanischen, und ist für mein Gefühl innerlich an dieser Rolle zu Grunde gegangen. Hätt er 100 Jahre früher gelebt, so wär er ein Landedelmann comme-il-faut ge­wesen; er hatte das Zeug dazu; so mußt er eine Rolle spielen, die ihm nicht kleidete.(F I, 200) Zum Ausdruck gebracht wird hier, dass dieser»märkische[] Junker von der Durchschnitts Sorte« 25 nicht in der Lage gewesen sei, den wachsenden He­rausforderungen, die ›die Zeit‹ abverlangt, zu entsprechen. Dieser»Lande­delmann« sei nicht dazu in der Lage, in den ›staatlichen Dingen‹ der ›neuen Zeit‹ eine Rolle zu spielen, eine Funktionsstelle einzunehmen. Ist sein Schei­tern an der»neuen Zeit« Ursache für jene»Confusion«, für seine Ambiva­lenzen? Fontane hat die Ausarbeitung seiner Novelle nicht so weit getrie­ben, dass dieser Sachverhalt, sei es durch Erzählerkommentare, sei es durch Figurenrede, hinreichend deutlich wird. Sehr viel deutlicher sind demgegenüber verschiedene, im Manuskript verstreute Fragmente oder Notate, die sich wie Kommentare des Autors lesen lassen, aber(noch) keiner Instanz in der Erzählung zugewiesen waren: Hier kommt nun(wichtig) ein Greisen=Kapitel, das diese Confusion aus­druckt, er liebt die Tochter und schimpft über die Juden und die neue Zeit und dann wieder sagt er: nur in Menschlichkeit und Natürlichkeit steckt das Wahre so daß[] alles Widerspruch ist und ein Satz immer den andern aufhebt. Er sitzt immer in der Sonne und freut sich und zu­letzt kriegt er noch mal einen frommen Anfall und spricht von seiner »Heiligen« und in diesem Zustande stirbt er.(F I, 202) Aus dieser Notiz zu Handlungsverlauf und Komposition wird deutlich, dass » diese Confusion« einer mentalen Disposition entspricht, die man mit einem Begriff von Ambivalenz erklären kann: eine widersprüchliche, kaum ein­deutige Haltung oder Positionen zu bestimmten Personen oder Dingen der eigenen Umwelt. Entscheidend ist nun, an welchen Phänomenen sich diese Ambivalenz entzündet. In allen Autorkommentaren wird die Ambivalenz, erstaunlich genug, überblickt man die vielen Probleme der Familie Storch, an einem Sachverhalt besonders exemplifiziert: an der Beziehung des Ba­rons zu seiner jüdischen Schwiegertochter Rebecca[Gerson] von Eichro­eder, zu»[den] Juden« in ihrer Gesamtheit und, eng darauf bezogen, zu der »neue[n] Zeit«. Die Haltung des alten Barons ist so angelegt, dass er seine Schwiegertochter einerseits durchaus liebt(»Storch und Rebecca. Storch glücklich.« F I, 197), andererseits Anschauungen in sich trägt, die diese Lie­be nicht einfach hinnehmbar machen, sondern zu einem Kampf führen weil Rebecca Jüdin ist(»Aber er konnte doch nicht Drüber hinweg«): Er bleibt immer noch unter dem Einfluß seiner frühren Anschauungen und seiner