Heft 
(2023) 115
Seite
165
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Fontane und das Erbe der Aufklärung  Woywode 165 Aber nicht nur Fontanes Beziehung zur Aufklärung ist komplex: dasselbe gilt auch für»die Vorstellungen von dem, was gemeint ist, wenn man von ›Aufklärung‹ spricht.«(S. 4) Es folgt ein vornehmlich lexikongestützter Überblick über zwei»deutliche begriffsgeschichtliche Verschiebungen«, die im 19. Jahrhundert beim Sprechen über die Aufklärung vorgenommen wür­den. Zum einen sei das die»Wahrheitsskepsis«, die»Relativierung von Wahrheitsansprüchen«, und zum anderen setze sich nun die»Historisie­rung« der Aufklärung zum vergangenen Zeitalter durch, was einen parado­xen Aufklärungsbezug hervorbringe, für den die Aufklärung historisch und anhaltend relevant zugleich sei(vgl. S. 6 f.). Bei allem Lob muss hier aller­dings Zweifel an den vermeintlich deutlichen begriffsgeschichtlichen Ver­schiebungen geäußert werden, denn gerade die Wahrheitsskepsis ist eine Errungenschaft der(Spät-)Aufklärung und ihrer fiktionalen Literatur, die durch die Fontane vertraute Kunst des wechselseitig relativierenden Dialogs Wahrheit höchstens im Augenblick des Austauschs verschiedener oder ge­gensätzlicher Standpunkte hervorblitzen lässt und dadurch den philosophi­schen Schematismus von wahr und falsch bzw. wahrer und falscher Aufklä­rung aufbricht. Außerdem könnte man die kleinliche Frage stellen, warum die Herausgeber zunächst differenziert skizzieren, wie ›Aufklärung‹ von Fontane und seiner Zeit einerseits als andauernder Prozess und andererseits als abgeschlossene historische Epoche verstanden wurde, sie sich dann aber für einen Titel entschieden haben, der diese Befunde zugunsten eines nur durch Schlagworte umrissenen(vgl. S. 8) und zudem ideologisch nicht ganz unbelasteten Erbe-Begriffes vereinseitigt. Abgerundet wird der eröff­nende Zugang zu Fontanes Aufklärungsrezeption durch den Hinweis auf dessen erstes veröffentlichtes Buch, den Gedichtband Männer und Helden, mit dem der Dichter an die heute befremdlich wirkende Tradition der preu­ßisch-patriotischen Dichtung etwa eines Gleim anschließt was Kittelmann zum Glück nicht davon abschreckt, sich in einem gelungenen, zusammen mit Baptiste Baumann verfassten Beitrag mit diesem Traditionsbezug auseinan­derzusetzen. Anschließend untersucht der profilierte Aufklärungsforscher und re­nommierte Fontane-Biograf Iwan-Michelangelo DAprile drei Dimensionen der Aufklärungsrezeption bei Fontane: in Bezug auf seinen Autortypus bzw. seine Autorenrolle, seine literarische Programmatik sowie auf seinen Umgang mit nationaler Erinnerungskultur und-politik. Dabei greift der Verfasser den pluralisierenden und praxeologischen Ansatz der neueren Aufklärungsforschung auf(vgl. S. 15). Für die Aufklärungstradition der Autorenrolle werden drei Aspekte hervorgehoben: Fontanes Selbstver­ständnis als»offensiver Autodidakt«,»Journalisten-Literat und ›Zeitungs­mensch‹« sowie seine»literarische Sozialisation in Lesegesellschaften und Literaturvereinen«(S. 19 f.). Besonders positiv fällt in diesem Kontext die Mahnung DApriles auf, dass nicht jede zeitübergreifende Parallele unwei-