166 Fontane Blätter 115 Rezensionen gerlich als fortgesetzte Aufklärungstradition aufgefasst werden sollte(vgl. S. 18). In der zweiten Rezeptionsdimension arbeitet der Verfasser den Traditionsbezug von Fontanes Realismus-Programm auf, den dieser schon in seinem frühen Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 betont, der im Sammelband immer wieder Anlass zu weiteren Überlegungen ist, teils mit prononciert kritischem Bezug(bei Monika Ritzer). In dieser Schrift werden die 1760er- und 1770er-Jahre zum Vorbild des zeitgenössischen Realismus erklärt, neben englischen Dichtern avancieren besonders Lessing und Bürger zu Vorbildern, die zur»Rückkehr[!] auf den einzig richtigen Weg« anleiten würden. In der dritten und letzten aufklärungsbezogenen Rezeptionsdimension, dem erinnerungspolitischen Diskurs, zeigt D’Aprile, wie Fontane seine Eindrücke der schottischen Erinnerungspolitik und ihrer Ehrung von Dichtern, Philosophen und Naturwissenschaftlern, nicht aber von Feldherren, auf den»Denkmals- und Gedenk-Diskurs« Preußens überträgt, sich hier jedoch von der»bildungsbürgerliche[n] Idealisierung der kanonischen Autoren des 18. Jahrhunderts als bloßen ›Kultus‹ zum Zweck der nationalen Selbstbeweihräucherung«(S. 28) aufklärerisch distanziert. Die Kritik an der dem Nationalkult dienenden Klassiker-Verehrung veranlasst Fontane zu einer Reihe von polemischen Bemerkungen zu Klassikern, etwa Lessing und seinem Nathan, wobei D’Aprile die brieflich ungefilterten antisemitischen Äußerungen Fontanes, die auch in den Beiträgen von Hubertus Fischer und Mike Rottmann zur Diskussion stehen, mit seinen Romanen kontrastiert, in denen solche Aussagen»ausschließlich satirisch-distanziert gezeichneten Figuren in den Mund gelegt und somit kritisch hinterfragt« würden(S. 29). Aufklärung, so D‘Apriles Fazit, sei nur als»ein sich seiner Historizität bewusster Prozess« zu haben, der»weder im 18. Jahrhundert noch in Fontanes Gegenwart eines sich zum Telos der Geschichte gerierenden Kaiserreichs zum Abschluss gekommen« sei(S. 30). Im darauffolgenden Beitrag versucht Roland Berbig, den jungen Fontane als Aufklärer, den mittleren als Verklärer und den alten als Erklärer näherzubringen und ihm auf diese Weise, bedacht, mit einem Erzählschema beizukommen, das von der nachzeitigen Aufklärungsbiographik übernommen wird, die bei langlebigen und vielseitigen Vertretern wie Wieland oder Goethe einen jungen, mittleren und alten unterscheidet. Auf Fontane wurde dieses dreigeteilte Schema zuletzt im großen Fontane-Gedenkjahr von Hans Dieter Zimmermann angewandt. Das Schema teilt nicht nur, sondern es verbindet auch, wie am distanzierten Aufklärungsverständnis des jungen und alten Fontane kenntlich wird, die, wie Berbig zeigt, beide dem tendenziellen Menschheits- und Wahrheitsidealismus der Aufklärung skeptisch gegenüberstanden. In beiden Lebensphasen erteilt Fontane der auf das Menschliche und Wahre zielenden Aufklärung eine deutliche Absage: in diese feine und höhere Welt könne er nicht mit, komme doch, wie der alte Fontane im Dreikaiserjahr an seine Tochter schreibt, bei Kritik und Aufklärung»›gar
Heft
(2023) 115
Seite
166
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