Heft 
(2023) 115
Seite
167
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Fontane und das Erbe der Aufklärung  Woywode 167 nichts heraus‹«(S. 36). Mit seinem schon 1853 ausformulierten Verklärungs­idealismus, der nicht das nackte, alltägliche Leben wiedergeben solle, son­dern Ideale in realistischem Anstrich zur Darstellung zu bringen und die bloße, als weiterzuverarbeitender Stoff dienende Wirklichkeit poetisch zu verklären habe, entspricht Fontane allerdings nicht nur dem Realismus­Konzept der Grenzboten, sondern ist, was noch hätte hervorgehoben wer­den können, auch ganz ein Erbe der Aufklärung. Zuletzt schildert Berbig Fontane in der Rolle als Erklärer, in der er sich zum sozial unverträglichen »Ratgeber in allen Lebenslagen« aufwarf(S. 41). Das liest sich etwa im Brief an seine Frau aus dem Juni 1878 so:»Du weißt recht gut, daß ich[] den andern an Wissen, Esprit und Gedanken überlegen bin, und ich verlange, daß man mir dies zugesteht«. Solche Aussagen schmerzen, sie sind aber ein Beleg dafür, wie schonungslos aufklärerisch im Sammelband mit Fontane umgegangen wird. Zu loben ist außerdem, dass Berbig nicht von einem rati­onalistisch verengten Begriff der Aufklärung ausgeht, sondern auf ihre Ent­fesselung von»Sinnlichkeit und Erfahrung«(S. 35) verweist, die ein an die Renaissance anknüpfendes Ideal des ganzen Menschen ermöglicht hat, das vom Realisten Fontane allerdings als wirklichkeitsfremd abgelehnt wurde. Berbig widersteht jedoch der Versuchung, Fontane deshalb zu einem sinn­lichkeitsfeindlichen»Nachkantianer«(S. 35) zu verbiegen und er rettet selbst den zuweilen unleidlichen Erklärer Fontane, indem er dessen spät formu­lierte Sentenz aufgreift, die den Irrtum mit dem Leben und die Wahrheit mit dem Tod gleichsetzt(vgl. S. 44). Aufklärung kann daher, dem Selbstver­ständnis der historischen Aufklärung entsprechend, keine Wahrheitsfin­dung sein, sondern nur eine Annäherung an dieselbe, was selbst den Erklä­rer Fontane schließlich zur Kapitulation vor dem nicht zu entschlüsselnden, nicht aufzuklärenden»Lebensrätsel« zwingt(S. 45). Dieser praktische Umgang Fontanes mit der Aufklärung und ihren Idea­len wird von Dirk Oschmann belegreich am Beispiel der Freiheit herausge­arbeitet, einem der»begriffliche[n] Orientierungspunkte«(S. 8), die in der Einleitung des Bandes für die Diskussion der Frage nach dem Erbe der Auf­klärung bei Fontane angegeben werden. Oschmann untersucht Fontanes idealismusskeptisches Verständnis von Freiheit, das sich zwischen dem He­roismus und dem Pragmatismus der Freiheit bewege, deutlich zu letzterem tendierend. Das ist erstaunlich, denn Oschmann zeigt im Kontrast zum Bei­trag Berbigs, wie Fontane den bei ihm»ubiquitären Herzensdiskurs«(S. 67) des 18. Jahrhunderts vereindeutigt zur Überlegenheit des freien und begeis­terungsfähigen Herzens gegenüber dem für ihn ungenügend-nüchternen Verstand. Das anglühende Freiheitspathos wird allerdings sogleich mit auf­klärerischem Pragmatismus abgekühlt. Diesem Pragmatismus der Freiheit geht Oschmann auch in Fontanes Haltung zur von ihm als Zeitvergeudung abgelehnten politischen Wahl(vgl. S. 79) und, mit Rücksicht auf Kleist, Fich­te und Luther, in Fontanes Romanen nach, in denen die Figuren»immer wie-