Heft 
(2023) 116
Seite
52
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52 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Jean Thorel(1859–1916), der mit wahrem Namen Jules-Raymond-Virgile Bouthors hieß, war Ende des 19. Jahrhunderts als preisgekrönter Autor, Kritiker und Übersetzer vom Pariser Intellektuellen-Milieu anerkannt und sehr geschätzt. Durch seine Übersetzungen von Die Weber und Hanneles Himmelfahrt führte er Gerhart Hauptmann in Frankreich ein; in seinen Ar­tikeln befasste er sich überwiegend mit deutscher Literatur und Musik, wo­bei ihn sein Interesse für die Dichter der Romantik, Wagner und die franzö­ sischen Symbolisten in die Nähe Wyzéwas rückte. 11 Letzterer widmete ihm 1896 einen Artikel, der in Jean Thorel vor allem den empfindsamen Dichter hervorhob und sein poetisches Werk lobte. Der»rosa-blauen Wolke, die sei­nem Herzen entspringt«, biete Jean Thorel, so Wyzéwa , in»schönen franzö­ sischen Sätzen Zuflucht, die so elegant, leicht und herrlich fließend sind, wie sie sein sollten, um einer Wolke Schutz zu gewähren«. 12 Im Spektrum von Jean Thorels eigenen literarischen Neigungen und Tä­tigkeiten ist Kriegsgefangen auf halbem Wege zwischen romantischer Dich­tung und naturalistischem Theater angesiedelt. Dramatische und poetische Elemente spielen in Fontanes Erzählung eine sowohl inhaltlich als auch for­mal strukturierende Rolle: Zur Inszenierung der Handlung greift Fontane wiederholt und explizit auf die klassische Dramenstruktur zurück, wäh­rend auf inhaltlicher Ebene die Theatermotivik auch deskriptiven Erzähl­abschnitten als metaphorisches Kulissenbild dient. In einzelnen Szenen schimmern noch romantische Reminiszenzen durch und färben insbeson­dere die Landschaftsdarstellungen auf Oléron poetisch ein. Auch wenn die erzählerische Gestaltung also Jean Thorels eigenen literarischen Maßstä­ben entsprach, kann über den Übersetzungsimpuls nur spekuliert werden. Da Wyzéwa Fontane schon ab 1891, vor Veröffentlichung seines Autoren­porträts, erwähnt, liegt es nahe, ihm eine Vermittlerrolle zuzuschreiben. Doch auch ein grenzüberschreitender, deutsch -französischer Austausch liegt nahe: In einer vergleichenden Studie über den Realismus in Deutsch­ land und Frankreich , die 1893 in der Revue Entretiens politiques et lit­téraires erschien, schrieb der deutsche Schriftsteller, Literaturkritiker und Fontanekenner Konrad Alberti:»Auf meine Anregung hin interpretierte Jean Thorel Fontane für die Pariser und sie nahmen ihn mit Freude auf.« 13 Albertis Wortwahl lässt aber auch noch aus einem anderen Grund hellhö­rig werden: Handelt es sich im Falle Jean Thorels mehr um eine ›Interpreta­tion‹ als um eine Übersetzung? Angesichts des historischen Kontextes wäre der Zweifel nicht unberechtigt. Zwar bemühte man sich in Frankreich ab den 1860er-Jahren um größere Genauigkeit und Originaltreue, trotzdem gehörten Nachdichtungen, Kürzungen und Umschreibungen Ende des 19. Jahrhunderts noch zur gängigen Übersetzungspraxis. Wyzéwa erklärte die Adaptation sogar ausdrücklich zu seinem leitenden Übersetzungsprinzip. 14 Ebenso freizügig ging auch Michel Delines mit dem Originaltext um, als er