Heft 
(2023) 116
Seite
66
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66 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte rues avec dinterminables défilés de séminaristes tout noirs. Tous gais et bons vivants, pensais-je: il devait faire bon vivre dans cette ville. Je ne me suis jamais plus complètement trompé dans mes suppositions. (T 102) Fontanes Moulins erstarrt zu einem pittoresken Gemälde, das sich aus den Farbtupfen der Klosterschüler und Mühlknappen zusammensetzt und auf einer streng symmetrischen Syntax beruht. Thorel ersetzt die»Klosterschü­ler« hingegen durch»endlose Paraden schwarzgekleideter Seminaristen« (»dinterminables défilés de séminaristes tout noirs«). Wie es zu dieser Über­setzung kommt, bleibt zunächst schleierhaft; dennoch fällt auf, dass Thorel Fontanes Tableau nicht künstlerisch überformt so wie er die Infirmerie­Szene ins Fantastische steigert, sondern die Abstraktion des erträumten Ortes ins Prosaische übersetzt, d. h. Fontanes kurzes Prosagedicht zu einem narrativen Text umgestaltet: Die Mühlknappen sind nun weiß und»mehlbe­deckt«(»enfarinés«) und kreuzen sich»gewiss«(»sûrement«) mit den para­dierenden Seminaristen»auf der Straße«(»dans les rues«). Das rege Treiben wird daraufhin durch eine vergleichsweise wenig zurückhaltende Erzähler­stimme kommentiert:»Alle sind freudig und heiter, dachte ich: in dieser Stadt musste es sich gut leben«(»Tous gais et bons vivants, pensais-je: il de­vait faire bon vivre dans cette ville«). Die verstärkte Erzählerpräsenz scheint verdächtig: Wer in der Übersetzung sagt»ich«? Biographische Gründe le­gen nahe, die Stimme weniger Fontane als einem metaleptischen Eingriff des Übersetzers zuzuschreiben. Jean Thorel stammte aus einem katholi­schen Umfeld: Sein Bruder, Paul Bouthars, war Priester, 39 aber auch er selbst hatte durch eine Ausbildung am Versailler Priesterseminar 40 wohl einen persönlichen Bezug zu Bischofssitzen und Seminaristen. Sein Moulins wirkt umso konkreter und lebhafter, als er dem stilisierten Original nicht Fonta­nes, sondern seine Subjektivität und sein eigenes, die Syntax aufplusterndes »Erlebtes« einhaucht: Für einen flüchtigen Augenblick tritt Jean Thorel aus seiner gespenstigen Unsichtbarkeit heraus auf die Erzählbühne. Anhand dieses Kapitels lässt sich aufzeigen, inwiefern sowohl kontextbedingte über­individuelle Rahmenbedingungen wie die französische E. T. A.-Hoffmann­Rezeption als auch subjektive, biographische Faktoren Einfluss auf die Ar­beit des Übersetzers nehmen. Die aufgeführten Veränderungen und Abwandlungen sind nicht nur ku­rios, amüsant oder grotesk, denn auch wenn sie auf makroskopischer Text­ebene selten vorkommen und nahezu unsichtbar erscheinen, illustrieren sie doch die soziale und historische Determiniertheit der Übersetzung und des Übersetzenden. Symptomatisch für das 19. Jahrhundert sind die Spannun­gen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die besonders in der»Frem­denstube« des Kapitels»Lyon« zutage treten. Die Übersetzungslektüre des Kapitels»Moulins« hingegen erlaubt es, auch textimmanente Schichten ­freizulegen: Die Übersetzung ist deshalb so interessant, weil sie eines der