Heft 
(2023) 116
Seite
70
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70 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte setzung nicht»bonsoir, messieurs« zuruft, sondern»bonsoir, les enfants« (T 69),»guten Abend, Kinder«. Auch im Kapitel 6(»Rückblicke«), einem ebenfalls wichtigen Teil der Erst­veröffentlichung in der Revue Bleue, sind kleinere Auslassungen 45 festzu­stellen. Sie betreffen vor allem Bemerkungen über den Mangel an Körper­pflege in Besançon, den Fontane als peinlich und entwürdigend empfindet, da»mit dem Gefühl des äußerlichen Unsauberseins mehr und mehr auch die Vorstellung einer gewissen innerlichen Unreinheit über uns kommt.«(F 73). In diesem Zusammenhang werden Sätze gestrichen, andere grob resü­miert. 46 Doch auch dort, wo nicht gekürzt wird, können winzige semanti­sche Mutationen beobachtet werden, die trotz ihrer unscheinbaren Dimen­sionen nicht weniger interessant sind. In Besançon legt Fontane eine kurze Erzählpause ein, um die»Eindrücke« wiederzugeben, die er während seines Frankreichaufenthalts vom»Charackter des Volkes« und seinen»Vorzügen und Schwächen« gewonnen hat. Thorel übersetzt diese geschichtspolitische Analyse überraschend genau. Fontane kommt dabei auf sein ursprüngliches Urteil zurück und deutet sein»Gesamtbild« der Franzosen positiv um, doch »so angenehm der Eindruck war, den sie als Individuen hervorriefen, so traurig war der Eindruck, den jeder einzelne als Teil des Ganzen machte« (F 70). Es folgt ein kritischer Abschnitt über den Eindruck des Verfalls, der »völligen Zerfahrenheit« und Eitelkeit, den Frankreich ihm als Nation ver­mittelt. Verantwortlich für die allgemeine Dekadenz sei der Bruch mit der Tradition, mit»Regierung, Kirche, Gesetz« kurz:»Der Eindruck war kläg­lich und zeigte den tiefsten Verfall.«(F 70) Kaum merklich ist die Abwei­chung in der Übersetzung und doch:»Limpression qui se dégageait de tout cela était vraiment pénible.«(T 74) Der»Eindruck«, rückübersetzt man Thorel,»den das Ganze hinterließ, war wirklich unangenehm«. Die Formulierung wird im Französischen in­sofern entschärft, als die Beobachtung auf der subjektiven Ebene der Wahrnehmung(»vraiment pénible«) verweilt, ohne sich zu einem phänome­nologisch grundierten Urteil(»zeigte den tiefsten Verfall«) zu objektivieren, während»kläglich« gegen ein vages»tout cela«(»all das«) eingetauscht wird. Mit»pénible« übersetzt Jean Thorel auch eine andere Textstelle, und zwar im ersten Kapitel»Domrémy«, das Fontanes ersten Illusionsbruch schildert: In der Mitte des Dorfes hielten wir vor einem rußigen, anscheinend he­rabgekommenen Gasthause, das in verwaschenen Buchstaben die In­schrift trug: Café de Jeanne dArc. Es war unheimlich.(F 16) Dass das»Unheimliche« gerade im»alten romantischen Land« eine glückli­che Stunde feiert, überrascht nicht. Jan Röhnert sieht in Fontanes Jeanne­dArc-Verehrung eine»Rückbesinnung auf den eigenen urfranzösischen Stammbaum«. 47 Doch beim kläglichen Anblick des Cafés, welches auch durch seine heilige Namenspatronin nicht vor dem»tiefsten Verfall« be-