72 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte wusste Absicht des Übersetzers zu deuten bzw. zu überinterpretieren, vielmehr zeigt es, und sei es nur für einen flüchtigen Augenblick, den Übersetzer am Webstuhl, der die Fäden des Textes entknotet, weiterspinnt und zu einem neuen, sinnerzeugenden Sprachgeflecht verwebt. Mit den Kürzungen in Kapitel 5 und 6 verschwinden also die leidvollen Momente aus Fontanes französischer Gefangenschaft; mit der»petite misère« geht Thorel somit noch sparsamer um, als Fontane es in Kriegsgefangen ohnehin schon tut. An einigen Stellen wird sie auch ex negativo ausgespart, wie zum Beispiel in der Fremdenstube in Lyon. Ein»gardien-chef«, der selbst empfinden mochte, wie wenig das alles zu den Ansprüchen eines officier supérieur stimmte, half aus eigenen Mitteln nach und erschien mit einem braunkarierten Plumeau, mir dadurch für meinen Lyoneser Aufenthalt einen Komfort und einen Luxus schaffend, den ich während all der Wochen meiner Gefangenschaft, weder vorher noch nachher, gehabt habe.(F 85) Auch dieser kurze Abschnitt fehlt in der Übersetzung. Verwies das komfortable Plumeau zu deutlich auf die unkomfortablen Lebensbedingungen in den französischen Gefängnissen? Die schlechte Behandlung der Kriegsgefangenen gehörte während des 1870er-Konflikts zu den Leitmotiven patriotischer Narrative; beidseitig beschuldigten die Länder den Nachbarn, ihre Kriegsgefangenen unmenschlichen Lebensbedingungen zu unterwerfen. Dieser nationalistischen Rhetorik widerspricht Fontane bereits im Kapitel »Abschied«. Dem Wunsch seiner Mitgefangenen,»großen Lärm wegen schlechter Behandlung der Gefangenen zu machen«, entgegnet er ablehnend mit der Bitte, von der Vorstellung abzulassen,»daß die französischen Gefangenen in Deutschland ein glückliches und die deutschen Gefangenen in Frankreich ein unglückliches Leben führten«, denn»Gefangen sein sei immer unangenehm.«(F 220) Dass die größten Unannehmlichkeiten seiner eigenen Gefangenschaft in den Souvenirs unterschlagen wurden, machte es Fontanes feindlich gesinnten Kritikern umso leichter. Davon gibt es in der französischen Kritik recht wenige, wurde die Erzählung doch überwiegend mit Beifall aufgenommen. Trotzdem bietet Fontanes privilegierte Behandlung manchen Rezensenten wiederholt eine Angriffsfläche – darunter Paul Ginisty, Journalist, Romancier und Dramaturg, der in einem Zeitraum von siebzehn Jahren(1892–1909) insgesamt sechs Artikel über Kriegsgefangen mit nahezu identischem Inhalt und Wortlaut in sechs verschiedenen Zeitungen veröffentlichte. 48 In seinen klischeebeladenen Artikeln ironisiert er Fontanes Gefangenschaft mit beißendem Unterton und reduziert sie zu einer burlesken Parodie: Auf Oléron schwelgte seine deutsche Seele am mondbeschienenen Meeresufer in sentimentalen Träumereien, die sich mit der Sehnsucht nach jener Weihnachtsgans vermählten, die er anders als in Vorjahren nicht
Heft
(2023) 116
Seite
72
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