74 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte erlesene Weine, Höflichkeitsbesuche«. 55 Der Neuauflage wird im selben Jahr immerhin ein Artikel gewidmet, der, von demselben humorvoll-mokierendem Ton durchdrungen, in der französischen Tageszeitung Le Monde unter dem vielsagenden Titel Ô prisons, ô châteaux!( O Gefängnisse, o Schlösser!) erscheint. Der Journalist Bernard Frank greift Alain Garrics Vergleich auf und treibt ihn auf die Spitze: Dank dieser Erzählung, in der nichts Wichtiges ausgespart wird, weder der Empfang durch die Administration und das Dienstpersonal noch der Komfort in Zimmern und Zellen, die Formen des Zeitvertreibs oder gar die Betrachtungen zu den Speisen und Getränken, verfügen wir mit diesem Journal de captivité über einen wahren Gault und Millau des Gefängnisalltags, Ausgabe 1870. 56 Bernard Frank lässt daraufhin alle in Kriegsgefangen erwähnten Speisen und Getränke Revue passieren und schließt seine Rezension mit einer frechen Pointe: Ja, falls Sie all diese Gefängnisse trotz ihrer profunden Menschlichkeit nicht reizen, dann empfehle ich Ihnen den Guide de la vie de château en Europe von Philipp Couderc und Bernard Louis-Nounez. Illustrationen von Jean-Jacques Flammarion, 125 F. 57 Die Empfehlung des Hotelreiseführers Guide de la vie de château en Europe stellt eine weitere, ironische Untergrabung des Journal de captivité dar, dessen Assoziation mit dem Restaurantführer Gault& Millau nunmehr auf luxuriöse Hotels und prachtvolle Schlösser hyperbolisch ausgeweitet wird: Der französische Ausdruck»mener une vie de château«, wortwörtlich:»ein Schlossleben führen«, bedeutet so viel wie»ein müßiges, opulentes Dasein führen, im Überfluss leben«. Von 1870 bis 1986 sind über hundert Jahre vergangen. Zwei Weltkriege mit undenkbar tragischen Ausmaßen haben den Deutsch-Französischen Krieg aus dem kollektiven Gedächtnis und die»Souvenirs«(»Erinnerungen«) aus dem Titel der Neuauflage verdrängt. Je mehr die zeitliche Distanz wächst, desto größer wird, so scheint es, die Bagatellisierung der geschilderten Kriegserlebnisse. Wenngleich fraglich ist, inwiefern Thorels Textkürzungen zu dieser Lektüre beigetragen und die heiter-ironische Grundstimmung der Erzählung potenziert haben, stellte G. Lenotre 1915 den Übersetzer unter Verdacht: Den Erinnerungs-Band, den er[Fontane] veröffentlichte, ist eine solch lebhafte und undeutsche Erzählung, dass ich M. de Wyzéwa, der sie übersetzt hat, verdächtige, sie aus Versehen mit einer ordentlichen Prise seines Witzes und feinen Humors gewürzt zu haben. 58 Thorel – und nicht wie erneut angenommen Wyzéwa – fügte Kriegsgefangen zwar keine zusätzliche Portion Humor bei, passte die Erzählung jedoch dem Geschmack seiner Epoche an.»Traduttore traditore« – war Thorel dem bekannten Sprichwort zufolge ein Verräter oder verhielt er sich Fontane
Heft
(2023) 116
Seite
74
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