Kriegsgefangen in der Übersetzung von Jean Thorel Anke 75 gegenüber paradoxerweise loyaler, als dieser es sich selbst gegenüber war? Fontanes Freilassung war nämlich an die Bedingung geknüpft,»gegen Frankreich weder irgendetwas sagen noch schreiben, noch tun zu wollen«, die in einer Verpflichtungserklärung schriftlich niedergelegt und von ihm unterzeichnet wurde. 59 Diese parole d’honneur scheint Thorel, um es zugespitzt zu formulieren, mit noch größerem Pflichtbewusstsein eingehalten zu haben als Fontane selbst. Fontane formulierte es in seinem Vorwort zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg:»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen«. Die Tilgung kritischer Abschnitte deutet somit zugleich auf das Paradoxon von»der Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen« 60 hin. Auch die Souvenirs scheinen die Theorie der Herausbildung einer nationalen Identität durch die Konfrontation mit fremdkultureller Kunst und Literatur zu veranschaulichen bzw. zu versinnbildlichen: Mit Kriegsgefangen wurde nicht nur ein fremdkulturelles Werk übersetzt, sondern ein Werk, welches bereits das Eigene, d.h. Frankreich, zum Schauplatz hatte. Die Souvenirs verletzten das»amour propre national« nicht, weil die für das Nationalgefühl unvorteilhaften Stellen entfernt wurden. Eine große Stelle fehlt im einleitenden Kapitel des dritten Teils, und zwar aus»Die Insel Oléron«, in dem Fontane die Insel historisch-geografisch umreißt, die Anwesenheit Napoléons nach der Niederlage auf der Insel erwähnt und die Abschiedsrede des ins Exil verbannten Kaisers auf Französisch zitiert. Weder die Erwähnung der Siegermacht England noch die Rede Napoleons finden in der Übersetzung einen Platz, vielleicht, um den Lesern nicht gleich zwei Niederlagen auf einmal – 1815 und 1870 – zuzumuten. Die Glättung des Selbstbilds findet auch im stark verstümmelten Kapitel»Regentage« ihren Niederschlag: Fontane gibt darin Zitate aus seiner Oléroner Lieblingslektüre wieder, ein Autographenalbum das»in Faksimiles die handschriftlichen Aufzeichnungen von mehr als tausend Personen, Zelebritäten aus aller Welt Enden, zu elf Zwölfteln natürlich Franzosen«(F 161) enthält. Die französische Eitelkeit ironisch kommentierend, führt Fontane Zitate auf, die die größten zeitgenössischen Persönlichkeiten Frankreichs in wenig schmeichelhaftem, wenn nicht gerade lächerlichem Licht dastehen lassen –»die Auswahl«, so Fontane,»ließe sich verzehnfachen. Nur sehr selten überschlägt sich die Geistreichigkeit.«(F 168) Von dieser Auswahl hat Jean Thorel aber nicht einmal eine Auswahl getroffen, wenngleich keines der französischen Zitate einer Übersetzung bedurft hätte; nach dem ersten Drittel endet das Kapitel abrupt.
Heft
(2023) 116
Seite
75
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