Heft 
(2023) 116
Seite
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90 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Fontane­selbstredend besonders gut gefallen hat: Friedlaender hatte sich vor der Abfahrt nach Frankreich vorsichtshalber und für den allerschlimmsten Notfall eine Dosis Opium von seinem Apotheker besorgt. Als er dieses dann nach einer bakteriellen Ruhrinfektion und im Moment der höchsten Er­schöpfung an der Front nehmen will, muss er feststellen, dass sein Apothe­ker ihm versehentlich die Augentropfen für seine Mutter mitgegeben hatte. 15 Einen besonderen Stellenwert haben in dieser Hinsicht die Eingangska­pitel. Das Buch setzt an einem Augustmorgen auf dem Bahnhof Spandau ein, wo Friedlaender auf die ersten aus Frankreich eintreffenden Kriegsge­fangenentransporte wartet. Wie wir im zweiten Kapitel rückblickend erfah­ren, wurde der 27-jährige Gerichtsassessor am 28. Juni 1870 also bereits Wochen vor Bismarcks»Emser Depesche« vom 13. Juli und der folgenden Kriegserklärung durch Napoleon III. am 19. Juli auf der Schneekoppe von der telegrafisch übermittelten Nachricht der Mobilmachung überrascht, als er bei einer Wanderung im Riesengebirge gerade noch die Schäden des 1866er-Krieges besichtigte. Als Reserveleutnant wurde er gleich mit dem nächsten Nachtzug nach Frankfurt an der Oder geschickt, um dort die so­genannten»Ersatzreservisten« einzusammeln, die wegen unterschiedli­cher»körperlicher Gebrechen« nur für den höchsten Ernstfall zurückge­stellt waren. Anschließend wurde er im August 1870 zum Empfang des ersten Transports französischer Kriegsgefangener in Spandau abkomman­diert:»Zum Schwamm«, wie es abfällig in der Soldatensprache hieß. Weil er als ehemaliger Schüler des Berliner Französischen Gymnasiums der einzi­ge mit entsprechenden Sprachkenntnissen war, wurde ihm dort vom zu­ständigen General unversehens die Oberaufsicht über die Gefangenenun­terbringung übertragen. Wie dieser gehört habe, hätte er»auf dem Berliner Collège französisch gelernt und würde ihm dadurch wohl von Nutzen sein können. Er gestehe, daß ihm sein Französisch in den langen Jahren abhan­den gekommen und daß es bei den wenigen Herren seines Stabes damit ebenfalls nicht glänzend bestellt sei. Ich möge nun Alles machen!«, teilte der Befehlshabende dem verdutzten Assessor mit. 16 Bei den nun ankommenden Gefangenen handelte es sich zum größten Teil um aus den französischen Kolonien in Nordafrika rekrutierte Soldaten. Friedlaender gibt eine eindrückliche Beschreibung der Situation: Allmählich, aber sehr allmählich, entleerten sich nun die Waggons. Da kamen sie heraus, die tagelang gefahren waren, alle die Turkos, Zuaven, Chasseurs dAfrique und Linien-Infanteristen. Sie fröstelten sämmtlich. Nur wenige zeigten eine sichere Haltung und militairisches Wesen; weitaus die meisten und darunter manche mit leichten Wunden schlepp­ten sich matt und mühsam auf den Perron und lagerten sich hier sofort in Gruppen. Da waren Schwarze[], braune, gelbe, alte und ganz junge Soldaten aller Grade, kranke und gesunde: alle aber in defekter Monti­rung und sämmtlich in gedrücktester Stimmung. 17