134 Fontane Blätter 116 Freie Formen Walter Janka, von Ulbricht für Jahre ins Zuchthaus gesperrt worden war. Die Betrachtungen waren seinerzeit denn auch mit Zustimmung des Autors nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen worden, weil sie inmitten des zerstörten Landes und zehn Jahre nach dem Ende des mörderischen Krieges wie eine fatale Rechtfertigung alles historisch Irrigen gewirkt hätten. Die Nachwelt hat Thomas Mann den rechtsextremen Ausrutscher von 1918 längst nachgesehen, zumal Buddenbrooks, Zauberberg und Doktor Faustus jene Betrachtungen eines vermeintlich Unpolitischen bei Weitem überstrahlen. Aber Medien und individuelle Gegner von Autoren stürzen sich ja ständig und gierig auf solche Beulen in sonst harmonischen Biographien – ich denke an die Hatz auf Walter Jens und Günter Grass und deren jugendliche Verstrickung in der NS-Zeit und an Erwin Strittmatters problematische Stellung im zweiten Weltkrieg. Und selbst in der Fontane-Gemeinde – und das regt mich ziemlich auf – rühren sich Kräfte, die Fontanes zwiespältige, nicht unproblematische Haltung in der sogenannten»JudenFrage« zum wichtigsten Kriterium für seine Gesamtbeurteilung machen und ihn coûte que coûte in die Vorbereitung des Holocaust integrieren möchten. Ich kann nur immer wieder für eine sorgfältige Beachtung der Druck- und Veröffentlichungsgeschichte und für eine ausgewogene Einbeziehung seiner gelegentlichen Extrem-Urteile in einen ansonsten geradlinigen und noblen Lebenslauf plädieren. Meinen Vortrag zu diesem Thema hat die Cajewitz-Stiftung ins Internet gestellt. Doch zurück zu ›unseren Männern‹. Die besonders bösartigen Ausfälle gegen den»Zivilisationsliteraten« sind Thomas Manns Reaktion auf Heinrich Manns großen Essay über den französischen Schriftsteller Émile Zola, der im November 1915, also während der Arbeit an den Betrachtungen, in René Schickeles Weißen Blättern in der Schweiz erschienen war. Heinrich Mann schildert das Leben Zolas und stellt es als Gleichnis dar: als Bekenntnis zur wehrhaften, zur streitbaren Demokratie. Zolas mutiges Auftreten in der Dreyfus-Affäre charakterisiert unmissverständlich Heinrich Manns eigenen Widerstand gegen Krieg und Nationalismus:»Was ist Macht, wenn sie nicht Recht ist«, proklamiert er damals. Wenn er dabei die»geistigen Mitläufer« scharf angreift, die»mit seinen abscheulichsten Verführern« neben dem Volk herlaufen und ihm»Mut zu dem Unrecht[machen], zu dem es verführt wird«, dann ist Bruder Thomas zwar nicht genannt, aber natürlich gemeint, und der fühlt sich tief verletzt. Als Thomas Mann dann am 27. Dezember 1917 seinen Artikel»Weltfrieden?« im Berliner Tageblatt veröffentlicht, scheint es Heinrich Mann, als sei dieser Text an ihn gerichtet, und er macht sogleich den brieflichen»Versuch einer Versöhnung«. Wie wenig Thomas Mann bereit und fähig ist, die ausgestreckte Hand anzunehmen, zeigt seine Antwort vom 3. Januar 1918, die jegliche Annäherung mit großen Worten und in melodramatischem Tonfall ausschließt. Thomas schreibt:
Heft
(2023) 116
Seite
134
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