Heft 
(2023) 116
Seite
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136 Fontane Blätter 116 Freie Formen ja vor, jenes autobiographische Buch gemeinsam zu schreiben, das nach­mals Buddenbrooks heißen und aus der Feder von Thomas stammen sollte. Aber schon die ersten Romane dokumentieren die Gegensätzlichkeit: ­Thomas arbeitet an Buddenbrooks(1901) und beschwört die musikalisch­metaphysische Traumwelt des Hanno Buddenbrook in einer norddeutschen Kaufmannsfamilie, Heinrich dagegen beschreibt das Schlaraffenland(1900) der hauptstädtischen Finanzwelt, in der Andreas Zumsee Karriere macht Thomas konservativ-kontemplativ, Heinrich sozialkritisch-satirisch. Tho­mas Mann beobachtet denn auch die Produktion des Bruders mit Kritik, ja Abscheu, und wettert 1903 in einer Rezension gegen die»Blasebalg-Poesie«, die seit einigen Jahren aus dem schönen Land Italien eingeführt werde. Da­mit war für den Kenner die von Gabriele DAnnunzio ausgehende Schreib­art Heinrich Manns gemeint, jene rauschhafte Verherrlichung der»Blut­und Schönheits-Großmäuligkeit«, wie sie Thomas Manns Meinung nach in Heinrichs Renaissance-Trilogie Die Göttinnen zelebriert wurde. Über Hein­rich Manns folgenden Roman, Die Jagd nach Liebe, hat Thomas im Dezem­ber 1903 sogar einen vielseitigen Verriss geschrieben und an den Bruder geschickt: Diese schlaffe Brunst in Permanenz, dieser fortwährende Fleischgeruch ermüden, widern an. Es ist zuviel, zuviel ›Schenkel‹, ›Brüste‹, ›Lende‹, ›Wade‹, ›Fleisch‹, und man begreift nicht, wie Du jeden Vormittag wie­der davon anfangen mochtest, nachdem noch gestern bereits ein nor­maler, ein tribadischer und ein Päderasten-Aktus stattgefunden hatte. Was auf diese drastische Weise schon früh begonnen hatte und 1914/18 öffentlich ausgetragen wurde, setzt sich in den parallelen Biographien der Brüder ein Leben lang fort und hat auch weiterhin, im Exil und während des Krieges, die Bedrohung der Demokratie und der zivilisierten Welt zum Hintergrund. Thomas Mann hatte sich schon durch seine Heirat mit Katia Pringsheim festgelegt; er habe geruht, so formuliert er wörtlich, sich»eine Verfassung zu geben«, und der Garant waren Katia und die Kinder. Sieht man von ein paar homoerotischen Anwandlungen ab, so ist Thomas Mann doch das Ideal des treuen bürgerlichen Ehemannes und des wenigstens partiell besorgten Vaters. Freilich hatte er mit Katia auch eine Frau an sei­ner Seite, die eine ungewöhnlich starke Persönlichkeit war, die das Fami­lienleben organisierte und für ideale Arbeitsbedingungen sorgte. Die For­mel»Frau Thomas Mann«(so der Titel des 2003 erschienenen schönen Buches von Inge und Walter Jens) bezeichnet recht genau ihren Status. Dem Phänomen einer lebenslang intakten Ehe steht die relative Vielzahl von Heinrich Manns Affären gegenüber. Schon zur Zeit von Die Jagd nach Liebe erregte er im Hause des Bruders erheblichen Anstoß, weil er sein Verhältnis mit Ines Schmied nicht in eine bürgerliche Form brachte. Hein­rich war zwischen 1905 und 1910 mit dieser aus Brasilien gebürtigen Sän­gerin liiert, wohl sogar verlobt. Viktor Mann schreibt:»Einmal traf ich