Heft 
(2024) 117
Seite
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134 Fontane Blätter 117 Rezensionen Georges Felten: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutsch­ sprachigen Realismus 1850–1900. Göttingen : Wallstein 2022. 514 S. 39,00 »Auch das bürgerliche Leben hat seinen Sonntag«, 1 erklärte Julian Schmidt , der maßgebliche theoretische Kopf des Grenzboten-Realismus, und artiku­lierte mit dieser Aussage einen für die Nachmärzjahre charakteristischen literaturprogrammatischen Paradigmenwechsel. Dieser bestand darin, we­der den von der Romanästhetik in der Folge Hegels als grundlegend ange­nommenen Konflikt zwischen der»Poesie des Herzens« und der»Prosa der Verhältnisse« 2 noch die Prämisse eines zunehmenden Verlusts des poeti­schen Weltzustands zu propagieren, sondern die bisherige Problemkonstel­lation umzuwenden: Die vermeintlich ›prosaischen‹ bürgerlichen Lebens­verhältnisse galten nicht mehr als Bürde, vielmehr als Erfüllungsgegenstand einer neuen ›Poesie‹. Nicht die bürgerliche Alltagswelt der Gegenwart barg aufgrund eines Mangels an ›Poesie‹ literarische Darstellungsprobleme; ein Problem hatte, wer die Poesie der bürgerlichen Gegenwart, die ›Poesie des Prosaischen‹, nicht zu erkennen vermochte. Schmidts Sentenz über den Sonntag des bürgerlichen Lebens hebt die Poesie-Prosa-Diskrepanz voran­gegangener Literaturauffassungen zwar vordergründig auf, hält diese in der konkreten Formulierung gleichwohl präsent. Das bürgerliche Leben kennt eben nicht nur Wochenenden, erweist seinen poetischen Reiz aber schwerlich im prosaischen Alltag. Daher warnte Karl Gutzkow 1855, die Li­teratur dürfe nicht»die Wochentagexistenz des Menschen« beschreiben, stattdessen nur dessen»Sonntag«. 3 Nicht von ungefähr zeigt Fontane die Beschäftigten von Borsigs Lokomotiven-Fabrik in Irrungen, Wirrungen ge­rade nicht bei der zeitgenössisch als poetisch behaupteten Arbeit, sondern während der Pause. »Wie ergeht es der Poesie in zunehmend prosaischen Zeiten?«, lautet angesichts solcher Konstellationen die Leitfrage, mittels derer Georges Fel­ten sich dem Verhältnis von Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realis­mus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf über 500 Seiten widmet. Das Buch ist aus der 2019 an der Universität Zürich eingereichten Habilita­tionsschrift des Verfassers hervorgegangen. Es macht an dem für die Rea­lismus-Forschung zentralen Begriffspaar drei Ebenen aus: erstens Gegen­standsbereiche, denen anhand der Klassifikation als ›poetisch‹ oder ›prosaisch‹ Darstellungsdignität zugeschrieben oder abgesprochen wird; zweitens die Ebene der»Darstellungsmodi bzw. Töne(poetisch vs. prosa­isch)«; drittens die der»Darstellungsmedien(Vers vs. Prosa)«(S. 14). Die Studie expliziert diese drei Ebenen einleitend in äußerst knappen Kapiteln, ehe das Spannungsfeld zwischen Poesie und Prosa in fünf umfassenden Kapiteln zu Theodor Storm , Gottfried Keller , Wilhelm Busch , Conrad