Diskrete Dissonanzen Böttcher 135 Ferdinand Meyer und Theodor Fontane detailliert und kenntnisreich entfaltet wird. Die Einzeluntersuchungen zielen jeweils nicht auf das Gesamtwerk der Autoren(was nicht heißt, dass dieses nicht immer wieder berücksichtigt wird). Es handelt sich um»Mikrolektüren«(S. 19) einzelner, ganz unterschiedlicher Texte – u. a. Storms Immensee, Kellers Der grüne Heinrich und Das Tanzlegendchen, Buschs Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter, Meyers Die Versuchung des Pescara, Fontanes Frau Jenny Treibel –, die »qua close reading« dem Befund Rechnung tragen wollen, dass»die Texte des deutschsprachigen Realismus dazu neigen, entscheidende poetologische Sachverhalte an marginalen Stellen zu verhandeln«(S. 18, 407). Einer Realismus-Forschung verpflichtet, die die Zeichenbewusstheit der literarischen Texte selbst, den von diesen selbst offengelegten Konstruktionscharakter des eigenen Wirklichkeitsentwurfs in den Fokus rückt(vgl. S. 21f.), beansprucht Feltens Studie über die Einzeltextanalysen hinaus Aufschluss über einen»Epochenstil[]«, ein»epochenkonstitutives Schreibmuster« (S. 33), zu geben. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass die selbstreflexive literarische Praxis der Texte im Detail die ihnen zugrundeliegenden und von ihnen übergeordnet propagierten Programmatiken unterlaufe. Realistische Literatur sei geprägt von einer solchen»Zerreißprobe«(S. 32). Das Interesse des Verfassers gilt daher ihren ›diskreten Dissonanzen‹, der »Nichtidentität der Texte«(S. 18). Deren programmatische Poetisierungsund Ordnungsprinzipien(z. B. Verklärung, Versöhnung, Geschlossenheit), so die leitende These, würden durch»als prosaisch verrufene und dementsprechend allenfalls marginal artikulierbare Diskurse und Dispositive« strukturell unterminiert(S. 15). Programmatisch eigentlich aus dem Reich realistischer Poesie ausgeschlossene Themen und Gegenstände würden dennoch in die Texte hineinwirken, damit eine untergründige Unordnung stiften, die ansatzweise andere Poesiemodelle(der Arabeske und Groteske) durchscheinen ließe und demnach formal sowie thematisch einen»Stich ins Moderne« aufweise, wie es in Frau Jenny Treibel heißt. Wenn als Beispiel für»prosaische Gegenelemente zu dominierenden realistischen Poesievorstellungen»übernatürliche Wesen« und die»Prosa der modernen Lebenswelt«(S. 18) zusammen genannt werden – mithin zwei Bereiche, die sich weder der Auffassung realistischer Programmatik noch einer streng analytischen Betrachtung nach gemeinsam in das zentrale Begriffspaar fügen –, dann wird schon deutlich, dass es der vorliegenden Studie um eine Begriffsgeschichte der Poesie-Prosa-Differenz ebenso wenig zu tun ist wie um eine systematische Klärung der Begriffe oder die vollständige Berücksichtigung ihrer umfang- und lehrreichen Erforschung. Entsprechend gering fallen Ausführungen zur literaturhistorischen und literaturprogrammatischen Schärfung der Leitbegriffe aus, so
Heft  
(2024) 117
Seite
135
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