Heft 
(2024) 117
Seite
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136 Fontane Blätter 117 Rezensionen dass bisweilen der Eindruck eines lose-flexiblen Begriffsverständnisses entsteht und sich der Einwand formulieren ließe, das Aufspüren der Span­nungsverhältnisse realistischer Wirklichkeitskonstruktionen operiere sei­nerseits mit einem spezifisch zugerichteten Realismus-Konstrukt(das der Relationalität und Multiperspektivität realistischer Wirklichkeitsanschau­ungen in ihren literaturhistorischen Weitungen und Verengungen seit dem Aufkommen frührealistischer Schreibweisen zu wenig Beachtung schenkt). Nun referiert die Unterscheidungsfigur ›Poesie-Prosa‹ schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum mehr nur auf die Trennung von gebunde­ner und ungebundener Rede, sondern ist zunehmend gekennzeichnet von semantischen Transformationen, Überlagerungen und Entgrenzungen. 4 Vor allem in der Folge der romanästhetischen Debatten um Goethes ­ Wilhelm Meister wurde die Poesie-Prosa-Differenz mit gesellschaftlich­zeitdiagnostischen Bedeutungszuschreibungen aufgeladen, wurden Form­und Gattungsfragen schließlich untrennbar verknüpft mit Fragen sozialer Sinnbildung und Darstellung, mit grundsätzlichen Annahmen über das Verhältnis von Poesie und Leben, Individuum und Gesellschaft, Wirkli­chem und Möglichem. Die poetische Emanzipation des einst als prosaisch geltenden Bürgertums läuft parallel zu dessen sozialer Emanzipation und steht wiederum im Kontext einer Aufwertung der Erzählprosa als Form und ihrer neuen medialen Publikations-, Distributions- und Rezeptionsbe­dingungen. Diese Bedingungsverhältnisse, die politisch-sozialen und über­geordneten medialen Dimensionen des Poesie-Prosa-Verhältnisses sowie die sich während des Untersuchungszeitraums wandelnden Diskussionen darum kommen in der Arbeit nur am Rande vor. Der wichtige Hinweis auf einen Stilpluralismus ›um 1850‹ und der grundsätzliche Zweifel am verein­deutigenden Stellenwert programmatischer Äußerungen sollte nicht von der Erörterung der besonderen Entwicklungen zwischen Vor- und Nach­märz in der Poesie-Prosa-Differenz entbinden(vgl. S. 31 f.). Denn die prosa­theoretischen Positionen der unmittelbaren Nachmärzjahre waren nicht nur programmatisch stark umkämpft, die axiomatischen Umschreibungen jener Jahre stellten sich auch als fundamental dar, weil die schließlich mit dem Begriffspaar verkoppelten sozialen und politischen Sinndimensionen die spannungsgeladenen Wirklichkeitskonstrukte mitbegründen, die von der Studie analysiert werden. Dass die ›Spannungen‹ realistischer Texte und Programmatiken letztlich in Aporien führen, dass ihre Wirklichkeitskonstruktionen sich schließlich selbstreflexiv an ein Ende führen oder als Anachronismus ausweisen(vgl. 420, 38), arbeitet Felten treffend als ein tatsächlich weit über die untersuch­ten Einzeltexte hinausgehendes Epochencharakteristikum heraus. Der Ton schwungvoll erzählender Zuspitzung, in der er dies ganz überwiegend tut,